Die „Akte“ Eginald Schlattners ziert den Umschlag der nun veröffentlichten Dissertation: „Die Unentrinnbarkeit der Biographie. Eginald Schlattners Roman ‘Rote Handschuhe’ als Fallstudie zur rumäniendeutschen Literatur“ von Michaela Nowotnick. Titel und Bild lassen so gleich keinen Zweifel daran, dass es in dieser Studie ebenso um den „Fall Schlattner“ wie auch um seinen Roman geht.
Die Beschäftigung mit dieser Studie erinnerte mich stark an eine Szene, die ich vor Jahren bei einer Autorenlesung erlebte. Historischer Hintergrund des damals vorgestellten Romans war der blutig niedergeschlagene Aufstand gegen die Militärjunta 1973 im Polytechnikum in Athen. Die Ereignisse lagen zu jener Zeit noch nicht allzu weit zurück, und die lebhafte Diskussion zwischen Autor und studentischem Publikum drehte sich einzig und allein um die historischen Fakten, die politisch-moralische Haltung des Autors, während dieser verzweifelt versuchte, eine Stellungnahme der Studenten zu seinem Handwerk, also Stil, Aufbau etc., eben zu seinem fiktiven Produkt zu erhalten. Es blieb ein kommunikatives Desaster, man verstand einander nicht.
Ungleich schwieriger gestaltet sich die Aufgabe der Literaturwissenschaftlerin Michaela Nowotnick in der Behandlung des Romans Schlattners, in dem die Trennung zwischen Fiktion und Fakten häufig nur mühsam zu treffen ist. Als nach dem Ende der Ära Ceauşescu die historische Aufarbeitung des hier in erster Linie thematisierten „Kronstädter Schriftsteller-Prozesses“ von 1959 begann, in dem Eginald Schlattner zunehmend die Rolle des „Verräters“ und Hauptbelastungszeugen zugewiesen wurde, entstand parallel und auch als Reaktion sein Roman „Die roten Handschuhe“. Anfänglich stützte sich die zeitgeschichtliche Bearbeitung häufig recht einseitig auf Zeugenaussagen und behandelte die erst allmählich zur Verfügung stehenden Quellen mitunter recht voreingenommen. Daher ist es das Anliegen der Autorin, hier Gerüchten und Legendenbildung mit der Analyse der Fakten entgegenzutreten. Auch unternimmt sie es, den Charakter der als „Schauprozesse“ bezeichneten Gerichtsverfahren – die dennoch weitestgehend unter Ausschluss der medialen Öffentlichkeit stattfanden – zu klären. Dazu gehörten sowohl der „Schwarze-Kirche-Prozess“ als auch der „Schriftsteller-Prozess“, in die Schlattner jeweils sowohl als Angeklagter als auch als Zeuge involviert war. Nicht zuletzt, weil die Aussagen Schlattners in diesen praktisch inszenierten Prozessen dadurch einen anderen Stellenwert erhalten.
Von Schlattner als Debattenbeitrag verstanden, vom deutschen Feuilleton nahezu durchweg positiv beurteilt, stieß er bei ehemaligen Weggefährten und der siebenbürgischen Öffentlichkeit auf breite Ablehnung. Angesichts des historisch brisanten Umfelds stellt Nowotnick gleich in ihrer Einleitung die Frage: Was kann, was darf Literatur? Eben diese Grenzziehung zwischen fiktionaler und autobiografischer Aufarbeitung konkreter historischer Ereignisse durch Eginald Schlattner ebenso wie die kontroversen Reaktionen auf seinen Ansatz bewegten Michaela Nowotnick zu dieser Arbeit.
Gegliedert in drei große Blöcke, den historisch-biografischen Hintergrund, den Text und schließlich seine Wirkung auf die Leserschaft, nähert sich Nowotnick diesem doppelten Themenkomplex mit einer großen Bandbreite an Methoden. Das historische Umfeld der Siebenbürger Sachsen, soweit es in diesem Fall relevant ist, wird summarisch vorgestellt – konkret soll hier nur der ungarische Volksaufstand von 1956 als Auslöser für die Verfolgung der Minderheiten genannt werden. Als Exkurs wird das Phänomen der Auswanderung und die Auswirkungen auf das Gemeinschaftsgefühl der Sachsen in Rumänien und in Deutschland bis auf den heutigen Tag thematisiert. Neben der Analyse der historischen Belege, wie den Securitate-Akten, deren Zuverlässigkeit als Quelle mittlerweile hinlänglich kritisch gesehen wird, ist die Entstehungsgeschichte des Romans, sind die Vorarbeiten, soweit sie sich aus dem Vorlass Schlattners rekonstruieren lassen, von besonderer Bedeutung. Aber auch die Reaktionen und Argumente der „Gegenpartei“, d. h. der fünf damals verurteilten Schriftsteller Wolf von Aichelburg, Andreas Birkner, Harald Siegmund, Georg Scherg und vor allem Hans Bergel, sowie die seiner Biografen werden auf Widersprüche abgeklopft.
Es folgt die intensive Beschäftigung mit dem Text, wobei Schlattners literarischer Werdegang – der eben nicht erst nach 1990 begann, wie vielfach kolportiert – und die Entstehungsgeschichte des Romans miteinbezogen werden. Gerade der Entstehungsgeschichte kommt hinsichtlich der später gemachten Vorwürfe eine besondere Bedeutung zu. Die erste Version, „Weiße Flecken“, entstand bereits 1992 und war wohl zunächst als eine Chronik seiner Untersuchungshaft, aber auch als Selbstanalyse und Rechtfertigung seiner damaligen Befindlichkeiten angelegt. Das äußerst radikal ausgefallene Lektorat zunächst durch Brigitte Hilzensauer und mehr noch durch Edith Konradt bewog ihn jedoch, sein Manuskript zurückzuziehen und grundsätzlich zu überarbeiten. Nicht nur in der Form, sondern auch in der Intention lässt sich hier ein Wandel feststellen. „Der Grundton der Darstellung ist falsch.“
Schonungslos wahrhaftig möchte sich der Autor hier präsentieren, nicht mehr als „rachsüchtiger, hässlicher Zwerg“ (S. 139) erscheinen. Nicht mehr die Selbstrechtfertigung, sondern das romanhafte Erzählen, das exemplarisch über das eigene Schicksal hinausweist, sollte im Vordergrund stehen. Auch scheint er sich der Brisanz seiner Darstellung zunehmend bewusst zu werden, die meisten Namen – wenn auch für die Betroffenen leicht erkennbar – werden nochmals verschlüsselt. Leider bewirkt diese Verschlüsselung erst recht Empörung, da die Namen z. T. karikaturhaft verfremdet werden, aus Scherg wird Schräg, aus Hans Bergel Hugo Hügel.
Das Verhältnis von eingeschobenen Erinnerungen und Reflexionen zum Haupthandlungsstrang wird nach Zeit und Raum, Sprache, Stil oder Themenwahl untersucht. Die Frage nach dem Adressaten, d. h. an wen sich der Autor nun eigentlich wendet, mündet in die Frage nach den Lesarten als Roman, Autobiografie, Autofiktion oder Schlüsselliteratur. Denn gerade hier vollzieht sich die Trennung – je nachdem, ob der Leser aus dem rumäniendeutschen, also betroffenen Umfeld oder nicht stammt, entscheidet, ob er dieses Werk mehr als Schlüsselroman, Autobiografie oder als Roman betrachtet.
Der dritte Abschnitt dient der Aufarbeitung der Wirkung auf das deutschsprachige Publikum in Deutschland und Rumänien sowie der oft verfälschenden Darstellung sowohl des Romans als auch der Biografie Schlattners in einigen Medien. Hier stechen die Biografie Bergels durch Renate Windisch-Middendorf sowie die Publikation zum Schriftsteller-Prozess von Sven Pauling besonders hervor. Die tendenziösen Darstellungen, die auch vor plumpen Fälschungen nicht zurückschrecken, werden hier schonungslos offengelegt. Im Fazit und Ausblick kann als ein Ergebnis angeführt werden, dass nur in der Zusammenschau unterschiedlichster Quellen, privaten Nach- und Vorlässen, ebenso wie den Akten aus staatlichen Besitzständen ein angemessenes Bild der Kultur der Deutschen in Rumänien und ihrer Geschichte erstellt werden kann.
Nicht vergessen werden sollen die lesenswerten Anhänge, vor allem das ausführliche Interview mit Eginald Schlattner sowie der Kommentar von Frieder Schuller, der die Atmosphäre zwischen Gerüchten und Legenden beklemmend und eindrucksvoll wiedergibt. Ein Detail am Rande aus dem sehr intensiven Interview, das sich fast als persönliche Stellungnahme zu den Untersuchungsergebnissen liest, zeigt auf, dass die Selbstwahrnehmung Schlattners nicht immer ganz im Einklang mit den von Nowotnick erbrachten Ergebnissen steht. So arbeitet Nowotnick ganz klar heraus, dass Schlattner z. B. sein Manuskript zu „Der geköpfte Hahn“ sehr wohl mehreren Verlagen zur Veröffentlichung einreichte, jedoch verschiedentlich abgelehnt wurde, bis der österreichische Handelsdelegierte das Werk dem Wiener Paul Zsolnay Verlag vorlegte (S.126-127). Im vollständig abgedruckten Interview behauptet Schlattner: „Keines der Manuskripte hab ich je an einen Verlag geschickt. Zwei Diplomaten klemmten sich den HAHN unter den Arm“... „Ich selbst vergaß auf diese Unternehmung.“ (S. 298)