Es war ein grauer Wintertag Ende 2004, als ich in der Oberen Vorstadt die Rentnerin Anni Hubbes besuchte. Damals arbeitete ich für die rumänische Tageszeitung „Transilvania Expres“. Der Tag der Deportation der Rumäniendeutschen in die Sowjetunion jährte sich Anfang 2005 zum 60. Mal und ich wollte ein Interview mit einem Zeitzeugen führen.
Fast 18 Jahre sind seit diesem Tag vergangen, aber ich kann mich noch ganz genau an manche Details erinnern, als ob es gestern gewesen wäre. Ich erinnere mich, dass Anni Hubbes über die Zeit, in der sie unter unmenschlichen Bedingungen in einer Kohlengrube schuften musste, gesagt hat: „Es ist schwer, darüber zu reden. Immer wenn wir über die Deportation erzählen müssen, kommen die Erinnerungen wieder hoch und es ist schmerzvoll“. Ich erinnere mich, wie sie erzählte, dass die Leute in den Viehwaggons, die sie nach Russland transportierten, Eiszapfen gegessen haben, um nicht zu verdursten. Anni Hubbes hat im Lager Gedichte geschrieben, die ihr geholfen haben, in andere Welten zu flüchten, und das hat ihr Leben gerettet. „Ich war jung und naiv, und das hat mir geholfen, zu überleben“- auch an diese Worte erinnere ich mich genau. Ich erinnere mich auch, dass sie während unseres Gesprächs viel geraucht hat und erklärte, dass sie sich das Rauchen seit Russland nicht mehr abgewöhnen kann.
Ein wenig bekanntes Kapitel europäischer Geschichte
Auch im Video, das der luxemburgische Fotograf Marc Schroeder zu Beginn der Vorstellung des Buches „Order 7161“ am 23.Mai im Forumsfestsaal gezeigt hat, rauchen viele Frauen. Die Aufnahmen stammen aus den Jahren 2012-2015. Damals wurden die Überlebenden der Deportation, alle über 80 Jahre alt, für ein Buch mit Portraits und Erinnerungen interviewt. Marc Schroeders Zeitzeugenportraits entstanden in Rumänien während mehrerer Reisen und dokumentieren Erinnerungen und Gespräche mit hochbetagten Menschen, die Opfer der Deportationen wurden. Sie erzählen vom persönlichen Umgang mit den erlittenen Traumata, die aus der fragwürdigen Zuweisung „kollektiver Schuld“ resultieren. Heute leben die meisten der 40 Männer und Frauen, die Schroeder vor einem Jahrzehnt getroffen hat, nicht mehr. Doch ihre Erinnerungen leben weiter. Sie sind ein Zeugnis über ein viel zu wenig bekanntes Kapitel europäischer Geschichte.
Der Buchtitel „Order 7161“ kommt von einem am 16. Dezember 1944 von Stalin unterzeichneten Befehl, der das Schicksal der Deutschen in Rumänien für immer ändern sollte. Es geht um den geheimen Beschluss des Staatskomitees für Verteidigung- zur „Mobilisierung und Internierung aller arbeitsfähigen deutschen Männern im Alter von 17 bis 45 Jahren, Frauen von 18 bis 30 Jahren“ aus Rumänien, Ungarn, Jugoslawien, Bulgarien und der Tschechoslowakei. Ihre anschließende Deportation zur Zwangsarbeit diente dem Wiederaufbau der Sowjetunion und galt als Reparationsleistung für die Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg. Insgesamt wurden 112.480 Männer und Frauen deportiert. Die Mehrzahl von ihnen - 69.332 Personen - waren Deutsche aus Rumänien. Welches sind die Auswirkungen der Weltereignisse auf das Schicksal einzelner Menschen? Von dieser Frage ging Mark Schröder aus, als er die 40 Überlebenden für sein Buch portraitierte.
Ein Buch über Erinnerung
„Es ist ein Buch über Erinnerung, über das Erinnern an ein traumatisches Ereignis, das von einer Generation erfahren wurde, die in einen Weltkonflikt hineingezogen wurde und sich unter dem Joch aufeinanderfolgender totalitärer Regime wiederfand“, meint Mark Schröder. Während des Gesprächs im Forumsfestsaal mit der KR-Journalistin Laura Căpățână-Juller wurde er gefragt, welchen persönlichen Bezug er zu diesem Thema hatte. Die Antwort lautete: „Am Anfang gar keinen.“ Schroeder hatte keine Verwandten in Rumänien, hatte keine Verbindung zu den ehemaligen Deportierten. 2010 stieß er beim Durchblättern einer Zeitung auf einen Artikel über ein Altersheim in Hermannstadt und erfuhr so über Siebenbürger Sachsen. Dass sie aus dem gegenwärtigen Raum Luxemburg, seinem Heimatsort, kamen, und einen Dialekt sprachen, der seiner Muttersprache ähnelt. Er war fasziniert und beschloss, nach Hermannstadt zu fahren, um der Sache auf den Grund zu gehen. Während seiner Erkundungsreise erfuhr er mehr über die Deportation und war verwundert, dass die Rumänen dieses Kapitel der Geschichte kaum kannten. Er beschloss, ehemalige Opfer der Deportation aufzusuchen und deren persönlichen Erfahrungen anhand von Bildern zu erwähnen. Am Ende entstanden Portraits, welche die Emotionen widerspiegeln, die während des Erinnerns an die Verschleppung wieder auflebten. Danach wählte der Fotograf die Aussagen nach Thema und in chronologischer Reihenfolge der damit verbundenen Ereignisse aus. Die Sprechenden wurden im Text anonymisiert, weil, so wie der Autor meint, „Anonymität das kollektive Gedächnis der Opfer besser reflektiert“. In den sieben Kapiteln des Buches erzählen die Zeitzeugen nicht nur über die Zeit in Russland, sondern auch über ihre unbeschwerte Jugend vor 1945 und wie das Leben nach der Deportation im kommunistischen Rumänien war, als alle „Angst vor der Zukunft hatten, denn die Vergangenheit war schrecklich“.
„Man kann das nicht vergessen, aber man will sich nicht erinnern.“
Zwischen den Aussagen findet man schwarz-weiße Portraits aber auch alte Familienfotos, Landschaften, Briefe und verschiedene Dokumente. Alle fügen sich zusammen zu einer großen Erzählung, in der es nicht immer über Leid geht, sondern meistens über Hoffnung. „Nach fünf Jahren hörten wir zum ersten Mal eine Glocke läuten“, erinnert sich ein Deportierter, als er von der Heimreise im Jahr 1949 erzählt. Eine andere ehemalige Deportierte erinnert sich an die ersten Weihnachten, die sie in Russland verbrachte: „Und an diesem Heiligabend haben wir uns Tee in diesen leeren Drei-Kilo-Konservendosen gekocht und mit Sacharin gesüßt, und das war unser Nachtessen an Heiligabend. Aber das Essen hat uns eigentlich nicht gefehlt, unsere Gedanken waren ganz wo-anders“. Für viele war es nicht leicht, von dieser Zeit zu erzählen: „Man kann das nicht vergessen, aber man will sich nicht erinnern“.
Mit seinem Buch, das zusammen mit anderen Oral-History Büchern ein wichtiges und nützliches Zeitdokument darstellt, hat Mark Schröder es geschafft, der Deportation ein Gesicht zu geben. Doch das Bild, das nach dem Lesen des Buches im Kopf bleibt, ist keine Fotografie, sondern eine Aussage: Jahrzehntelang löste der bloße Anblick von Schnee in der ehemaligen Deportierten Ada Teutsch Erinnerungen an die Zeit in Russland aus.
Durch dieses Buch und durch die Fotografieausstellung, die bis zum 16. Juni im Foyer der Redoute besucht werden kann, hat der Autor es geschafft, ein Kapitel Geschichte zu retten, damit es nicht in Vergessenheit gerät. Es ist besonders wichtig, dass auch die junge Generation dieses Kapitel kennenlernt.
Die Fotografieausstellung „Order 7161. Porträts der Augenzeugen einer Deportation” und das Buch „Order 7161“ werden unterstützt von dem Rumänischen Kulturinstitut in Berlin, dem Nationalen Kulturfonds, dem Demokratischen Forum der Deutschen in Kronstadt und dem Department für Interethnische Beziehungen der rumänischen Regierung.