In den beiden Kretzulescu-Sälen des Nationalen Kunstmuseums sind seit Anfang Oktober und noch bis Ende Januar nächsten Jahres Werke des belgischen Fotokünstlers Gustave Marissiaux zu sehen. Die Bukarester Ausstellung wurde vom Nationalen Kunstmuseum in Zusammenarbeit mit dem Fotografiemuseum im belgischen Charleroi sowie mit der Vertretung der Föderation Wallonie-Brüssel in Bukarest organisiert und gibt einen Überblick über das gesamte Schaffen des belgischen Kunstfotografen, der der Stilrichtung des Piktorialismus zugerechnet wird.
Gustave Marissiaux wurde 1872 als Franzose in Frankreich geboren, nahm aber nach seiner Übersiedlung nach Lüttich/Liège im Jahre 1893 die belgische Staatsangehörigkeit an. 1894 wurde er Mitglied der Belgischen Fotografen-Vereinigung, die sich der kunstfotografischen Stilrichtung des Piktorialismus verpflichtet sah. 1899 eröffnete er in Lüttich ein Atelier für Porträtaufnahmen. Auf einer Italienreise, die ihn ein Jahr später durch Venetien und die Toskana führte, machte er zahlreiche Aufnahmen, die seinen künstlerischen Anspruch untermauerten und seine Karriere als Fotokünstler beförderten. Für die Weltausstellung in Lüttich 1905 dokumentierte er in mehreren Fotoreportagen die Steinkohleindustrie in der Region Lüttich, wobei seine zu diesem Zwecke entstandenen Aufnahmen Dokumentar- und Kunstfotografie miteinander zu verbinden wussten. Sein 1908 veröffentlichtes Album „Künstlervisionen“ unterstrich auf beeindruckende Weise seinen künstlerischen Anspruch.
Außerdem entdeckte Marissiaux zu dieser Zeit in der Landschaft der Bretagne eine neue Inspirationsquelle für sein fotokünstlerisches Schaffen. 1909 zog er sich weitgehend aus dem öffentlichen Leben zurück, experimentierte aber weiterhin mit neuen fotografischen und künstlerischen Methoden, zum Beispiel mit dem 1904 von den Gebrüdern Lumière in Lyon entwickelten Autochromverfahren zur Herstellung farbiger Fotografien. 1925 zog er in den zwischen Cannes und Nizza gelegenen südfranzösischen Ort Cagnes-sur-Mer, wo er 1929 im Alter von 56 Jahren starb.
Die Bukarester Ausstellung setzt ein mit einer Reihe von Frauenporträts Maurissiaux’ aus den Jahren 1900 bis 1914. Man sieht Frauen, wie sie Blumen in Vasen arrangieren, Frauen am Kamin, vor dem Spiegel, neben einer Kommode stehen, an einem Sekretär oder an einem Tischchen sitzen. Bereits beim Betrachten dieser ersten Porträtfotografien springt dem Betrachter die frappante Ähnlichkeit von Fotografie und Malerei ins Auge. Unwillkürlich denkt man an Vorbilder aus der Bildenden Kunst, etwa an die Gemälde Édouard Manets, dessen Werk ja gerade am Übergang zwischen Realismus und Impressionismus, zwischen Naturalismus und Moderne angesiedelt ist. Das eigentümliche Changieren zwischen Fotografie und Malerei, das der kunstfotografischen Stilrichtung des Piktorialismus eigen ist, begleitet den Betrachter während des gesamten Besuchs der Ausstellung, wobei abwechselnd Klassizismus, Impressionismus, Symbolismus, Jugendstil und Präraffaelismus als kunsthistorische Bezugspunkte der einzelnen fotokünstlerischen Werke von Gustave Marissiaux zutage treten.
Eine Lesende am Fenster mit sanften Konturen im weichen Licht, Frauen in Lehnstühlen mit kunstvoll drapierten Röcken, eine auf einer Marmortreppe Sitzende, Frauen an geöffneten Türen, durch die helles Licht fällt, das in der Spiegelung auf dem Parkett oder am Türrahmen geradezu farbliche Qualitäten entfaltet – so präsentiert sich Marissiaux’ Fotokunst als Malerei mit den Mitteln fotografischer Technik. Weitere Porträtaufnahmen schließen sich an: von einer Alten mit Haube, von einem in eine Pelerine gehüllten bebrillten Herrn mit Schnurrbart und Hut, aber auch von befreundeten Malern, die Marissiaux in deren Ateliers fotografiert hat. So sieht man den belgischen Maler Auguste Donnay vor einem wunderschönen, mit floralen Motiven bestickten Tuch sitzen und in seiner Zeichnungsmappe stöbern oder den Lütticher Künstler Armand Rassenfosse umgeben von Gemälden in seinem Atelier malen.
Aktfotografien bilden ein weiteres Kapitel der Bukarester Marissiaux-Ausstellung, einige davon auch in Farbe. Frauenakte mit Schal, mit Kopftuch, vor dem Spiegel, an der Wand, auf kunstvoll in Falten gelegten Tüchern lassen an die Gemälde Lawrence Alma-Tademas denken.
Bilder von Marissiaux’ Italienreise beschließen die Fotoschau des ersten Saales der Bukarester Ausstellung. Die Lagune von Venedig mit Segelboot, der Canale Grande mit Gondel, ein Kircheninterieur, die Landungstreppe eines am Fluss gelegenen fürstlichen Palais, italienische Gärten (Villa d’Este, Borghese) erweitern das Spektrum der im Nationalen Kunstmuseum entfalteten piktorialistischen Fotografie Gustave Marissiaux’.
Im zweiten Kretzulescu-Saal sind dann zunächst Fotoradierungen aus Marissiaux’ Album „Künstlervisionen“ ausgestellt. Dieses auch als Heliogravüre bezeichnete Druckverfahren mit fotomechanischen und fotochemischen Komponenten ermöglicht eine piktoriale Stimmungsmalerei, die Marissiaux in seinen Fotografien weidlich auskostet: Fabrikschlote Walloniens in düsterer Atmosphäre, wildromantische Baumstudien, trübe Landschaften, durch die Bergarbeiterfrauen schwere Säcke auf dem Rücken schleppen. Ansichten aus der Bretagne (Städte am Meer, Straßenszenen, Bauernstuben, Kapellen, steinige Wege, karge Landschaften, und immer wieder Frauengestalten mit den typisch bretonischen Hauben) runden den Gesamteindruck der von Marissiaux geschaffenen Fotoradierungen ab.
Den Abschluss der Bukarester Ausstellung bilden kleinformatige Fotografien aus Marissiaux’ dokumentarfotografischer Sammlung „La Houillière“ (1904/1905), die den Steinkohlebergbau im Belgien jener Jahre dokumentiert: Gruben, Halden, Depots, Sortier- und Trennanlagen, Männer, Frauen und Kinder bei der schweren Arbeit, Fabrikation von Grubenlampen, Reparatur von Wagons, Arbeiten an Luftschächten, in den Minen, am Fließband, bei der Beladung von Pferdefuhrwerken – alle Aspekte der damaligen Steinkohleindustrie werden durch Marissaux’ fotografische Arbeiten dokumentarisch fassbar, plastisch greifbar und künstlerisch erfahrbar.