Haben Sie schon mal versucht, im Dunkeln verschiedene Sockenpaare zusammen zu bringen? Oder probiert, mit verbundenen Augen durch die Stadt zu laufen, mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren oder einfach einkaufen zu gehen? Für einen Menschen mit gesundem Sehvermögen ist das fast unvorstellbar. Für Leute mit Sehbehinderung sind diese nur einige der zahlreichen täglichen Herausforderungen.
Wie behindertengerecht ist eigentlich die Stadt Temeswar? Diese Frage haben sich die meisten Bürger wohl nicht gestellt. Allein die Betroffenen können sich dazu äußern, wie es eigentlich ist, wenn man ganz normale Sachen unterfangen möchte. Ein behinderter Mensch, wie jeder andere Mensch auch, möchte mal in die Oper, an der Uni studieren oder einfach mit dem Bus durch die Stadt fahren. Wer beispielsweise auf einen Rollstuhl angewiesen ist, bekommt die ersten Unannehmlichkeiten oftmals schon gleich nach dem Verlassen des Hauses zu spüren: in Form von Treppenstufen, nicht abgesenkten Bordsteinkanten, zu hohen Einstiegen bei Bussen und Bahnen und enge Türen in den jeweiligen Institutionen.
Wie sich alles anfühlt, das kann man demnächst auf eigener Haut probieren. Denn während der neuen Auflage des Bega-Boulevard-Festivals am kommenden Wochenende in Temeswar/Timişoara, werden die Mitglieder des „Ceva de Spus“-Vereins (auf Deutsch: „Etwas zu sagen“) dabei sein und allen die Möglichkeit bieten, einen Einblick in das Alltagsleben eines Behinderten zu bekommen.
Bewegung durch Temeswar mit Hindernissen übersäen
Menschen mit Behinderungen, so wie Raluca Popescu und Simona-Maria Smultea, ist die Teilnahme am öffentlichen Leben in vielerlei Hinsicht erschwert. Beide Frauen setzen sich für die Rechte der Leute mit Behinderung ein und möchten deren Probleme im Alltag, in einer für Behinderte unfreundlichen Stadt präsentieren und somit ein Zeichen setzen.
In Temeswar sind die ersten zwei modernisierten Straßenbahnen angekommen. Die Armonia-Trams sollen alle Komfortbedingungen anbieten und auch für Leute mit besonderen Bedürfnissen geeignet sein. Eine Fahrt mit den neuen Bahnen wollte auch Raluca Popescu, die in einem Rollstuhl sitzt, unternehmen. Doch wegen der gesperrten Straßenbahnlinie 6 musste sie noch warten. Mit den Bussen und Trolleybussen ist sie schon gefahren. Eine besondere Rampe muss bei Bedarf der Busfahrer herunterlassen. Dass das nur sehr selten passiert, muss sie leider zugeben. Auch für Simona ist die Fahrt mit den öffentlichen Verkehrsmitteln eine Qual. Die 27-Jährige ist zu 90 Prozent blind – wegen einer Netzhautablösung kann die Frau nur noch mit ihrem linken Auge bis zu maximal 10 Prozent sehen. Wie durch Nebel, sagt sie.
Es ist ihr nicht selten passiert, dass sie in den falschen Bus stieg – da die Nummer des Verkehrsmittels schwer lesbar ist und auch beim einfachen Spazieren durch die Stadt fällt es ihr schwer, sich zu orientieren. Ampeln mit Akustik sind nur an zwei Orten der Stadt zu finden – vor der Orthodoxen Kathedrale und am 700er Markplatz. All diese Anliegen wurden sogar direkt mit den Vertretern des Bürgermeisteramtes und mit den Vertretern des Nahverkehrsbetriebs (RATT) besprochen. Versprechungen kamen ihnen immer wieder entgegen. Tatsächlich änderte sich nichts.
Einsatz für die Rechte behinderter Menschen
„Wir geben nicht auf!“ sagt Raluca Popescu entschlossen. Sie leidet an Tetraplegie - die motorische Lähmung beider Arme und Beine. Von ihrem Rollstuhl aus möchte sie die Welt dazu bewegen, auf Leute mit Behinderung Rücksicht zu nehmen. So nimmt sie zusammen mit den Mitgliedern ihres Vereins an zahlreichen Veranstaltungen in Temeswar, wie zum Beispiel demnächst am Bega-Boulevard- oder Plai-Festival sowie am Weinsalon RoVinHud teil. Beim Großsportevent Timotion im Frühling dieses Jahres machten sie auch mit. „Gewöhnlich setzen sich Leute bei verschiedenen Veranstaltungen für uns ein. Diesmal konnten wir selber mitmachen“, sagt Simona Smultea. Hand in Hand mit einer Freundin legte sie eine kurze Rennstrecke zurück; Raluca Popescu machte beim Rennen auf Rädern mit.
Innerhalb des Sportevents wurde Geld für ein Projekt des Vereins eingesammelt. Unter dem Titel „Unsere Rechte für alle verständlich!“ soll das „Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen” der Vereinten Nationen (UN) für alle Betroffenen zugänglich und verständlich gemacht werden. „Der Zugang zu Informationen soll über diese vereinfachte Version, Menschen mit Behinderungen helfen, sich in Gesprächen mit den Behörden nicht mehr ausgeschlossen zu fühlen“, sagt Elisabeta Moldovan. Die 37-Jährige ist Mitbegründerin des Vereins und leidet selber an einer intellektuellen Behinderung. Seit mehreren Monaten arbeitet sie an der Vereinfachung der UN-Behindertenrechtskonvention. Diese beinhaltet, neben der Bekräftigung allgemeiner Menschenrechte auch für behinderte Menschen, auch eine Vielzahl spezieller, auf die Lebenssituation behinderter Menschen abgestimmte Regelungen. „Die Information ist der erste Schritt in Richtung Barrierefreiheit“, sagt auch Raluca Popescu. Was sich eigentlich das Projekt vornimmt, ist, die Stadt für alle zugänglich zu machen. Den Leuten mit Behinderung soll der Zugang zu den jeweiligen Dienstleistungen in der Gemeinschaft gewährleistet werden. Auch das Problem der Diskriminierung soll teilweise gelöst werden. Durch die Vereinfachung von Regeln in der Gesellschaft sollen auch Menschen, die nicht lesen können, gegen keine Barrieren in der Stadt und Gesellschaft mehr stoßen. Insgesamt 7.930 Lei wurden bei Timotion für dieses Projekt eingesammelt. Bis Ende des Jahres soll die vereinfachte Version der UN-Behindertenrechtskonvention – auch als Audio-Version - veröffentlicht werden.