Eine faire Bezahlung, geringe Überstunden und kreative Freiheit – so sollte eine Arbeitsstelle sein. In der Videospielindustrie scheint das ein Hirngespinst zu sein. Der Traumberuf „Game Designer“ ist mit Unsicherheit und häufig mit Schinderei verbunden. Oft werden Programmierer entlassen, nachdem ein Videospiel fertiggestellt wurde. Aber es geht auch anders: Jamie Cheng, Independent-Entwickler von Videospielen, wollte sich nicht zwischen Familie und Arbeitsstelle entscheiden. Deshalb startete er einen gewagten Versuch: Er gründete 2005 mit ein paar Freunden aus dem College das Unternehmen „Klei Entertainment“ in Vancouver, Kanada. Cheng wollte beweisen, dass profitable Videospiele nicht überarbeitete und ausgebeutete Mitarbeiter voraussetzen müssen. Dass es auch ohne die „Helden“, wie er sie nennt, funktioniert. Ein weiter, steiniger Weg begann.
Die erste Prüfung war ein Büro, das die Größe eines Volkswagen hatte. Es stank, war stickig und eng. Das Fenster ließ sich nicht öffnen und mit drei Computern pro Person heizte sich die Luft in Rekordzeit auf. Im Sommer arbeitete das Team oben ohne. In diesen zweieinhalb Jahren waren sie weit davon entfernt die Rolle der Helden abzulegen. Der Designer, Jeff Agla, war beispielsweise tagsüber als Comiczeichner beschäftigt, nachts entwarf er das Layout der Figuren und Welten von „Eets“, das erste Videospiel des jungen Unternehmens. Es gab kein Geld, keine Freizeit und kein Interesse an ihrem Spiel – bis ein Jahr nach der Gründung Klei endlich die Rechte von Eets an den europäischen Videospielanbieter Frogster verkaufte. Der große Durchbruch war das allerdings nicht. „Es wurden ungefähr 100 Kopien verkauft“, erzählte Cheng: „Ich glaube Frogster wird nie wieder mit uns reden, aber es war trotzdem ein tolles Gefühl.“
Erst als der Anbieter Nexon das Team für die Entwicklung des Videospiels „Sugar Rush“ unter Vertrag nahm, änderte sich wirklich etwas. Ein größeres Büro, neue Angestellte und mehr finanzielle Sicherheit waren erreicht – oder besser gesagt: Der Glaube an mehr Stabilität. Kurz bevor Sugar Rush veröffentlicht wurde, ging Nexon pleite und entließ von einen Tag auf den anderen alle seine Mitarbeiter. „Das war der Moment, in dem mir klar wurde, dass ich die Verantwortung übernehmen muss“, meinte Cheng. Heimatlos und spielelos musste Klei wieder von vorne beginnen und möglichst bald einen Anbieter für ihre Spiele finden. Einmal für das zuckersüße Sugar Rush, in dem gegen andere Spieler und Roboter gekämpft wird und einmal für dessen Antithese Shank, ein Spiel in dem der Held einen blutigen Rachefeldzug vollzieht. Neun Monate nach Nexons Schließung kam dann der Erfolg.
Electronic Arts nahm Klei für Shank´unter Vertrag. Das Spiel wurde ein Hit. Es war ein Durchbruch, aber gleichzeitig auch eine Niederlage. „Jedes Mal, wenn uns Helden retten, bedeutet das zu versagen“, sagte Cheng. In diesem Sinne scheiterte Klei ein zweites Mal, denn das Spiel konnte nur rechtzeitig durch die langen, durchgearbeiteten Nächte im Büro beendet werden. Cheng aber lernte seine Lektion.
Für Shank 2 und Mark of Ninja wurden eine realistischere und flexiblere Zeitspanne mit dem Anbieter vereinbart. „Wir fragten uns, was für ein Unternehmen wir sein wollten und begannen etwas zu ändern“, berichtete Cheng: „auch weil wir wussten, dass die Kinder kommen.“ Kurz nachdem Shank 2 veröffentlicht wurde, wurde Chengs Frau schwanger.
Seine Hypothese, dass kreativ freie und finanziell gesicherte Angestellte erfolgreichere und interessantere Spiele entwickeln, konnte Cheng allerdings erst mit dem Spiel Don’t Starve beweisen. Der Grund war, dass dieses Spiel in allem ungewöhnlich war. Die Entwicklung, die Marketingstrategie und das Spiel – alles war anders. Don’t Starve nahm durch das Feedback der Spieler Gestalt an. In der ersten Version, die über Chrome zum Test angeboten wurde, konnten nur Ressourcen gesammelt und Nahrung gegessen werden. „Dabei geschah etwas merkwürdiges“, erinnerte Cheng sich. Obwohl der erste Entwurf nur ein roher Grundriss war, wurde er weiterhin gespielt und erfuhr eine enorme Resonanz, da-durch dass die Spieler anfingen ihn zu teilen. „Das beschleunigte den Prozess unglaublich“, erzählte Cheng: „Die Spieler probierten neue Spielentwicklungen sofort aus – dadurch mussten wir nicht mehr so viel experimentieren und sparten Zeit.“
Aus dem ursprünglichen Comicdesign der Figuren wurde eine grobe Skizze, die an Tim Burtons Night before Christmas erinnert. Die düstere Atmosphäre, die im Film in der Halloweenwelt herrscht, existiert auch in Don’t Starve. Jede Sekunde ist der Tod allgegenwärtig. Allein auf einer Insel muss der Spieler versuchen seinen Charakter am Leben zu erhalten. Er muss gegen wilde Hunde kämpfen, für den Winter vorsorgen und sich vor den Giganten in Acht nehmen. Tutorials gibt es nicht. Gespeichert wird automatisch. Stirbt der Charakter, muss der Spieler von vorne beginnen. Anfangs stand Cheng der Unbarmherzigkeit des Spieles kritisch gegenüber, er glaubte das könne Spieler abschrecken. Aber je mehr Konturen Don’t Starve annahm, desto begeisterter wurde er von dem Spiel und der Welt voller Wissenschaft und Magie.
„Mein Ziel war es, ein Unternehmen aufzubauen, das viele, viele Jahre überleben kann“, meinte Cheng. Fürs Erste hat er das erreicht und kann seinen Angestellten die Sicherheit geben, die sie sonst oft vergeblich suchen. Einer der Entwickler von Don’t Starve konnte, als sein Neugeborenes zur Welt kam, sich ein paar Monate frei nehmen, um die ersten Schritte seines Kindes mitzuerleben. In anderen Unternehmen wäre er vermutlich entlassen worden oder hätte kündigen müssen, weil er auch in Zukunft weniger arbeiten und keine Überstunden mehr übernehmen möchte. Cheng hat den großen Firmen bewiesen: Es geht auch ohne Helden.