Bukarest im Januar 1996: „Aus durchlöcherten Dachrinnen tropfte das Schmelzwasser auf die Gehsteige, wo es auf dem Boden sofort zu einer festen Eisbahn gefror.“ (S. 26); „Mehr gleitend und rutschend als gehend, an manchen Stellen mich an den Eisenzäunen der Villengrundstücke entlang hangelnd, bewegte ich mich über die vom Eiswind polierten Gehwegplatten.“ (S. 18); „Der Wind schob mich vor sich her über das spiegelglatte, wie mit Möbelwachs polierte Gehwegpflaster bis zur nächsten Straßenecke, an der sich eine Sonnenblumenkerne verkaufende Zigeunerin heiße Ziegelsteine unter ihre sieben Röcke schieben ließ.“ (S. 16). Winterszenen aus der rumänischen Hauptstadt, die auch heute noch, fast zwanzig Jahre später, lebendige Aktualität besitzen!
Mit dem „Bukarest“ überschriebenen Anfangskapitel eröffnet der in Berlin lebende Rumänienkenner und Bukarestporträtist Axel Barner seinen Reisekrimi „Der Weg nach Timbuktu“, der vor Kurzem im Berliner Zwischenbereiche Verlag erschienen ist. Für Thomas Tanner, die Hauptfigur des Reiseromans, wird die rumänische Kapitale zu einer Existenzmetapher, einem Sinnbild „für die eigene Sterblichkeit und Nichtigkeit“ (S. 26): In der barocken Morbidität Bukarests, „in ihrer bröckelnden Weitläufigkeit, in ihrem prätentiös vergänglichen Charme, der die wirklichen Bedingungen menschlichen Daseins offen legte und nicht, wie im Westen, hinter glitzernden Fassaden und Werbespotlächeln verbarg, fand auch ich mich wieder.“ (S. 26). Nach der Trennung von seiner Freundin Svenja Kunze nimmt der Berliner Antiquar Tanner für eine gewisse Zeit Urlaub vom Leben und sucht Heil wie Heilung im Reisen. Bukarest ist dabei nur ein Übergangsraum, eine Vorstufe, gleichsam ein Sprungbrett, von dem sich Tanner in die tiefere Wirklichkeit Afrikas stürzt.
So reist Tanner denn schon bald von Bukarest über Paris nach Mauretanien weiter, wo er seinen ehemaligen Studienkollegen Markus Grießbacher besucht, der eine diplomatische Karriere eingeschlagen hat und momentan in der Deutschen Botschaft in Nouakchott arbeitet. Grießbacher ist es auch, der am Ende – in einer Art Herausgeberfiktion – die Aufzeichnungen Tanners, die in Timbuktu abbrechen, für das Auge des Lesers rettet, indem er sie an den Berliner Hauptkommissar Stein weiterleitet. Neben Tanner ist Stein der zweite Ich-Erzähler in Barners Reisekrimi. Als Mitarbeiter in der Vermisstenstelle der Kripo Berlin hat Stein das mysteriöse Verschwinden von Tanners Ex-Freundin Svenja zu untersuchen, die, zeitgleich mit Tanners überstürzter Abreise nach Bukarest, wie vom Erdboden verschluckt ist. Der eines Kapitalverbrechens verdächtige Tanner macht sich im weiteren Verlauf des Romans noch verdächtiger dadurch, dass er Hauptkommissar Stein und einem Ermittler vom Bundeskriminalamt, die ihn zur Klärung des Sachverhalts in Nouakchott aufsuchen, Tränengas ins Gesicht sprüht und anschließend mit Grießbachers Auto in die Wüste flieht.
Die vom Autor gewählte Bezeichnung „Reisekrimi“ kann dabei auf eine doppelte Weise verstanden werden. Sie bezieht sich einerseits auf den von den deutschen Behörden vermuteten Kriminalfall ohne corpus delicti, bei dem die Ermittler den Spuren des flüchtigen Tanner folgen, der ihnen im afrikanischen Niemandsland Mauretaniens und seinen offenen Grenzgebieten zu Marokko, Mali und zum Senegal ständig durch die Finger schlüpft und immer eine Nasenlänge voraus ist. Die Bezeichnung „Reisekrimi“ bezieht sich andererseits und vielleicht in einem tieferen Sinne auf das Reisen selbst: Das Reisen in Barners Roman ist nicht nur spannend wie ein Krimi, sondern – gemäß dem lateinischen Wort „crimen“ – eine Beschuldigung, ein Vorwurf, eine Anklage.
Inkriminiert werden dabei Lebensentwürfe, die der westlichen, insbesondere der deutschen Kultur entspringen und die in der Begegnung mit anderen Kulturen, sei es der rumänischen, sei es den diversen afrikanischen, als Verbrechen am Leben selbst charakterisiert werden. Die just nach der letzten Berliner Begegnung mit ihrem Ex-Freund Tanner spurlos verschwundene Svenja kann dabei als Verkörperung des deutschen Sicherheitsdenkens betrachtet werden: Lebensplan, Eigenheim, Familiengründung, Verbeamtung, Bausparverträge, Finanzierungspläne, dies alles ist für Tanner nur ein Zeichen von Lethargie: „Da alle Realität Veränderung und Bewegung ist, ist nur das, was sich bewegt, auch in der Realität. In der Bewegungslosigkeit war das Lebendige abwesend und insofern auch die Wirklichkeit. Der typische Makel der Deutschen ist ihre Sehnsucht nach Stillstand, die aus der Angst vor Bewegung, vor Veränderung resultiert. Daher wird Lethargie in Deutschland zum Lebensprinzip erhoben.“ (S. 225) „Aus Angst vor Veränderungen leben die Deutschen in der Vergangenheit, die sie die ‚gute alte Zeit’ nennen, oder in einer idealistisch-utopisch vorgestellten Zukunft, niemals jedoch in der Gegenwart. Nie war es den Deutschen gelungen, den Augenblick zu leben, den Augenblick als Erfüllung zu erleben.“ (S. 226)
So wird Tanners Weg in die Weite und Leere Afrikas zum Experiment einer Sinnsuche, die den Fluchtaspekt seiner Reise radikal übersteigt. In den endlosen Sanddünen der Wüste, in den gottverlassenen Ansiedlungen fern jeglicher Zivilisation, insbesondere der westlichen, im mythisch umwitterten Timbuktu kommt Tanner zu sich selbst: „Jetzt, da ich mir verloren gehe, habe ich mich gefunden. Jetzt bin ich mir am nächsten. Jetzt bin ich im Nirgendwo angekommen.“ (S. 239) Das sagenumwobene Timbuktu am Rande der Sahara, das der britische Offizier Alexander Gordon Laing und der französische Afrikaforscher René Caillié Anfang des 19. Jahrhunderts als erste Europäer erblickten, entfaltet in Barners Reisekrimi jedoch nicht nur seine ekstatisch-emphatische Dimension, sondern auch seinen sprichwörtlichen Nebensinn: „In England und Frankreich hatte sich seit Laings und Cailliés Zeiten eine Redensart eingebürgert: ‚Er ist auf und davon nach Timbuktu’ – was so viel bedeutet wie: ‚Er ist völlig durchgedreht’ oder ‚Er hat seine Frau im Stich gelassen’ oder ‚Er ist auf unbestimmte Zeit abgehauen und kommt wahrscheinlich nie wieder zurück.’“(S. 230)
Wunderbare Landschaftsschilderungen wechseln in Barners Reisekrimi mit wahrer Exotik, die nicht selbst gemachten Phantasien und Wunschträumen nachhängt, sondern die tieffremde Realität Afrikas mit scharfer Beobachtungsgabe ungeschönt und authentisch wiedergibt. Der Leser erlebt die verschiedenen Stadien der Reise und das reiche situative Geschehen in geradezu körperlich empfundener Nähe, zuweilen fast atemlos, mit und nach. Die Wüste beginnt in diesem Buch tatsächlich zu leben, und die darin geschilderten erotischen Begegnungen tun ihr Übriges, um Barners Reisekrimi „Der Weg nach Timbuktu“ zu einem vielfältigen Lesegenuss werden zu lassen. Mehr als ein Dutzend ganzseitige, in Schwarzweiß gehaltene, den Erzähltext begleitende Fotocollagen von Annette Beisenherz verleihen dem Buch zusätzlich Anschaulichkeit. Nach der Lektüre wünscht man sich, ein Kinoregisseur möge sich dieses Buches annehmen und mit einem Film über Tanners Weg nach Timbuktu Bernardo Bertoluccis „The Sheltering Sky“ (Himmel über der Wüste) Konkurrenz machen.