Es ist stockfinster! Im Saal und auf der Bühne. Kaum auszumachen sind zwei schimmernde Leuchtdioden von elektronischen Geräten, doch das ist eher eine Vermutung als eine Gewissheit. Dann kommt, nach unendlich lang erscheinenden Sekunden, ein Windrauschen aus den Lautsprechern und das Dunkel wird für Bruchteile von grellen Lichtblitzen zerrissen: auf der Bühne sind zwei Gestalten auszumachen, Rücken an Rücken doch nah bei einander, eine Frau und ein Mann, mit den Gesichtern je einer Videokamera und einem Monitor zugekehrt. Bei jedem Aufleuchten der Scheinwerfer befinden sich die Gestalten in einer anderen Pose, einmal, wie in ängstlicher Haltung vor dem Monitor kauernd, einmal teilnahmslos ausgestreckt.
Wer sind die Beiden? Was verbindet sie und was trennt sie? Wieso verhalten sie sich so unterschiedlich, wo doch anzunehmen ist, dass sie ein Paar bilden und eigentlich zusammengehören?
Es sind die einzigen Personen einer Handlung, die sich in der autistischen Begrenzung der Bühne abspielt und die dabei schon nach Sekunden, dem Zuschauer sehr bekannt vorkommen. Die Beiden tauschen Erinnerungen an eine gemeinsame Vergangenheit aus, Vergangenheit in der sich buchstäblich alles abgespielt hat, alles erlebt und verbraucht worden ist, alle Geschehnisse und Erfahrungen ausgeschöpft wurden. Die Kommunikation erfolgt im zuckenden Lichtgewitter nur noch über eine Schlaufe von Bild und Ton - Technik aus unserer unmittelbaren Umgebung, entfremdend und unpersönlich: Routine in ihrer reinsten Form. Form welche auf der Bühne, in nun gleißend ernüchterndem Licht zu einem neuen Spiel wird, ein Spiel der Erinnerungen, in ungleicher Form von den Beiden im Gedächtnis bewahrt: „Es war meine rote Bluse“/ „Nein, es war dein rotes Hütchen!“ Eine ins Nirgendwo führende Konfrontation.
Der Dialog, stellenweise auf Gegenkurs, anderswo nur kontrovers, erfolgt sprachlich, durch runde elegante oder schroff abgehackte Tanzbewegungen und durch ein apartes System von Zetteln in unterschiedlichen Formaten, welche der Mann vor das Objektiv der Videokamera hält, um den Inhalt seiner Partnerin über das Bild am Monitor zugänglich zu machen. Aufreizende Schreie in Textform, die banal abgetan werden, in einer immer schnelleren Spirale der Routine mit offenem Ausgang, den sich der Zuschauer selbst vorstellen kann. Oder auch nicht. Dann geht das Spiel eben weiter, ins Unendliche der möglichen Möglichkeiten. Deren Ende vielleicht nie kommen wird oder schon längst stattgefunden hat und nur von dem „Anderen Du“ nicht wahrgenommen wurde. Ein „Du“ nach dem die namenlose Frau des Stückes, mit Fingerklopfen an den gläsernen Bildschirm sucht, um die unpersönliche Antwort eines den Bildschirm füllenden Textes zu bekommen. Die Frage nach dem Genre der Veranstaltung, welche spätestens an dieser Stelle einer Chronik geklärt werden müsste oder sollte, wollen wir einfach links liegen lassen, denn sie erscheint gegenstandslos: es war eine höchst interessante Erfahrung, welche optisch und akustisch beeindruckt und in Erinnerung bleibt. Der Leitfaden der menschlichen Beziehungen wird endlos erscheinend in immer neuen Formen aufgegriffen ohne jemals ausgeschöpft zu werden.
Mit dieser Vorstellung beendete das Deutsche Kulturzentrum Kronstadt die Veranstaltungsreihe, mit welcher es das Jubiläumsjahr seines Bestehens feierte. „Another You“, von und mit Viviana Escale und Volkhard Samuel Guist ist nur eines der seit 2005, zusammen mit CocoonDance verwirklichten Projekte. Für die Choreographie und Regie des Stückes signiert Rafaële Giovanola, die Musik ist von Jörg Ritzenhoff, die Ausstattung von Annika Ley und die Lichtgestaltung Marc Brodeur. Dramaturgie und Konzept sind von Rainald Endraß. Viviana Escale, in Barcelona aufgewachsen, wo sie an dem Theaterinstitut studierte, beeindruckte durch die temperamentvolle Darstellung der hektischen Kontaktsuche während ihr Partner, der gebürtige Mediascher Volkhard Samuel Guist, die nicht leichte Aufgabe meisterte, energiegeladen trotzdem abweisend und cool zu erscheinen.
Eine vom Publikum mit Neugierde aufgenommene Performance, deren experimentelle Form Anklang fand.