„Ich muss, ich will, ich kann“. Dieser Satz begleitet Ingrid Arvay ihr Leben lang. Es ist der Vers, den ihr ihre Großmutter väterlicherseits, Hedwig Iuliana Arvay, ins Stammbuch schrieb. Er hat eine besondere Bedeutung für die ausgebildete Erzieherin, denn er leitete das Leben ihrer „Omi“. Diese wurde am 11. Januar 1945 von ihrem siebenjährigen Sohn Artur Dieter getrennt und in die Region Lugansk zur Zwangsarbeit in ein Bergwerk gebracht. Nach zwei Jahren und sieben Monaten wurde sie entlassen. Sie überquerte die Grenze illegal und zu Fuß, um zu ihrem Sohn, „ihrem Ein und Alles“, zu gelangen. Sie konnte es, weil sie es musste und wollte!
Am Sonntag, dem 12. Januar, hat Ingrid Arvay im Rahmen der Gedenkfeier zu 80 Janhren der Deportation der Rumäniendeutschen in Arbeitslagern der Sowjetunion über die Zwangsverschleppung ihrer Großeltern erzählt. Die Veranstaltung wurde nach dem Gottesdienst in der Blumenauer Kirche abgehalten. Auch andere Enkelkinder oder Kinder von Deportierten sprachen über die Erinnerungen und Traumata der Verschleppten, wie auch der Zurückgebliebenen, die enteignet und entrechtet überleben mussten. Die Erinnerungsworte haben zur Sprache gebracht, „was wir als gemeinsame Erfahrung teilen“, so Frank Thomas Ziegler, Pressesprecher der Honterusgemeinde, der die Veranstaltung organisierte.
Geständnisse, die tief wirken
Die von Gemeindegliedern geschilderten oder vorgelesenen Erinnerungen haben die Anwesenden tief beeindruckt. Voller Emotionen dargestellte Informationen über die schrecklichen Arbeitsverhältnisse in Kohlengruben und Hüttenwerken, über den Typhus, der die geliebte Schwester forderte, die außerhalb des Lagers versteckten Kohlblätter, die nachts geholt und zu einer Suppe gekocht wurden, lösten Tränen aus. Die tiefen Wunden der Deportierten sind weitergegeben worden, wenn es auch vielen schwer fällt, darüber zu sprechen. Ingrid Arvays Vater, Artur Dieter, der Siebenjährige, der von seiner Mutter weggerissen wurde, kann immer noch nicht über das Thema sprechen. „Immer, wenn er darüber gefragt wird, versagt ihm die Stimme“, erklärt sie.
Hannelore Joos las gerührt über die fürchterlichen Bedingungen, in denen ihre Mutter in einer Kohlengrube im Donbass arbeiten musste und die sie bis zu ihrem Tod immer wieder geschildert hat. „Die wochenlange Fahrt eingepfercht in diese Waggons, das Lager aus Holzbaracken, wo bei minus 40 Grad der Wind hindurchblies. Im Kohlenschacht mussten sie die Wagonetten mit Kohle beladen und sie auch wegschieben. Ratten, Mäuse liefen ihnen über die Füße.“ Der Hunger, den ihre Eltern in der Ferme erlitten, hat die nun Rentnerin dazu bewogen, immer, genau wie diese, sehr achtsam mit den Lebensmitteln umzugehen, nie Essensreste wegzuwerfen. „Es kam vor, dass wir einiges nicht essen wollten. Da meinte mein Vater nur: Ja, ja, hätten wir das in Russland gehabt! Was eure Mutter kocht, schmeckt gut und ihr sollt es essen.“
Der Neubeginn in der kommunistischen Diktatur war auch schmerzhaft, man wusste sich aber zu helfen: „Als meine Mutter zurückkam aus Russland, fand sie in ihrem Haus einen Mann, der war Rumäne, Witwer und hatte fünf Kinder. Solange sie im Lager gewesen war, wurde ihr Haus ihm zugeteilt. Die beiden haben beschlossen, dass er mit seinen Kindern in einem Zimmer wohnt und meine Mutter mit ihren beiden Kindern im anderen Zimmer. Nach zwei Jahren haben sie sich zusammengetan und eine Familie gegründet”, erzählte Sidonia Barbu.
Zeugnis einer Überlebenden
Sofia Magyari ist ins 101. Lebensjahr eingetreten und ist eine der wenigen Deportierten, die heute noch am Leben sind. Eine kurze Passage aus ihren Memoiren wurde bei der Festlichkeit in der Blumenauer Kirche vorgelesen, sie selbst konnte aus gesundheitlichen Gründen nicht anwesend sein. Daraus erfuhren die Anwesenden, dass sie in der Sowjetunion in eine Tischlerei hätte kommen sollen, sich aber nicht von ihrem Bruder trennen wollte. Sie ist zu ihm gelaufen, hat den Kommandeuren Erklärungen geben müssen, warum sie mit ihm bleiben will und war dann ständig an dessen Seite, „im Schacht, im Lager, überall waren wir zusammen. … Ich habe viel, viel, viel gelitten, aber es ist alles vorbei. Wenn ich so alleine bin, dann denke ich: Ist es wahr? War ich es? Ja, ich war es.“
Die Sehnsucht nach der Heimat und den geliebten Menschen hat den Verschleppten Kraft gegeben, der Glaube, Hoffnung. Er gab ihnen in unbeschreiblichen Umständen oft Kraft, sagte Vikar Claudiu Riemer in der Predigt, die demselben Thema gewidmet war. Das Gedenken der schrecklichen Gräueltaten und der Folgen des Zweiten Weltkriegs sollte nicht verdrängt werden, vielmehr sollten wir es „in das Licht unseres Glaubens stellen“. Denn Glaube ist auch heute für uns eine Quelle der Hoffnung. Der Vikar ermutigte auch zu Versöhnung, die hilft „mit der eigenen Vergangenheit Frieden zu schließen - mit dem eigenen Leid, aber auch mit der Ungerechtigkeit, die einem widerfahren ist.“
Entschädigung beantragen
Die Namen und Identität zahlreicher Deportierter aus Kronstadt und dem Burzenland wurden in den ersten Nachkriegsjahren vom Burzenländer Fürsorgeausschuss in Karteien festgehalten. Diese Karteien wurden zwischen 2005 und 2015 von einem kleinen Team von Ehrenamtlichen und kirchlichen Angestellten zum „Gedenkbuch von Opfern aus den Reihen der Deutschen Minderheit Kronstadts infolge des Zweiten Weltkriegs und der Deportation zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion (1945)“ verarbeitet, das insgesamt 675 Personen auflistet. Die ehrenamtliche Altkuratorin der Honterusgemeinde Gundel Einschenk erzählte kurz über ihren Einsatz bei der Arbeit am Gedenkbuch.
Der Leiter des Blumenauer Altenheims Ortwin Hellmann sprach seinen Dank an all jene aus, die sich zum Thema Deportation eingesetzt haben- die vor 10 Jahren verstorbene Ada Teutsch, die Architekt Günther Schuller bei der Gründung des Vereins der ehemaligen Russlanddeportierten unterstützte oder Wolfgang Wittstock, ehemaliger Abgeordneter im Parlament und Vorsitzender des Kronstädter Forums. Er erinnerte an die Geste des einstigen Außenministers Adrian Severin, der sich Mitte der 1990er Jahre im Namen des rumänischen Staates für dieses Unrecht entschuldigte und forderte die Nachkommen der Verschleppten auf, die Entschädigung zu beantragen, die ihnen gesetzlich zurecht steht. „Als ich meinen Eltern die Dossiers gemacht habe und sie das erste Geld bekommen haben, haben beide geweint. Sie haben gesagt, dass sie wenigstens etwas bekommen für dieses Opfer, das sie gebracht haben“, erzählte eine Nachkommin von Deportierten nach dem Gottesdienst.
„Überwindung der Deportation“
Frank Thomas Ziegler unterstrich, dass die Gedenkfeier auch als Gelegenheit gedacht ist, sich die Wirkung der Leiden der Vorfahren im eigenen Leben bewusst zu machen und Kraft zu schöpfen, für die Mitmenschen Gutes zu tun, nicht etwa Vergeltung zu suchen. Er sprach von der Gelegenheit, „einander und unseren Nächsten ungeachtet von Stand, Sprache, Nation, Glaube, die Hände zu reichen und mit Blick auf die Wohlfahrt der gesamten Menschenfamilie Frieden und Liebe zu wirken.“ Ziegler erinnerte auch an die unzähligen Opfer aus anderen Volksgemeinschaften, mit denen die Siebenbürger Sachsen über Jahrhunderte hinweg zusammengelebt haben: Juden, Roma, Ungarn, Rumänen und alle anderen ebenfalls. „Die Deportation war für alle Betroffenen, der Deportierten wie der Zurückgebliebenen, der traumatische Tiefpunkt ihres Lebens. Er ist so prägend gewesen, dass die Aufarbeitung und Bemühung um Überwindung dieses Traumas bereits drei Generationen in ihren Bann zieht. Gedenkfeiern zur Erinnerung an die Deportation müssten deshalb besser Gedenkfeiern zur Überwindung der Deportation heißen.“
Am 16. Dezember 1944 erließ Stalin einen Geheimbefehl zur „Mobilisierung und Internierung aller arbeitstauglichen Deutschen auf den von der Roten Armee befreiten Territorien“. Damit war die zeitweilige Zwangsverschickung der arbeitsfähigen deutschen Bevölkerung zur Aufbauarbeit in die Sow-jetunion besiegelt. Im Januar 1945 wurden etwa 70.000 Rumäniendeutsche – Männer zwischen 17 und 45, Frauen zwischen 18 und 30 Jahren – deportiert, darunter viele Siebenbürger Sachsen. Wegen extremer Kälte, mangelhafter Unterbringung, chronischer Unterernährung, defizitärer hygienischer Bedingungen und schlechter medizinischer Versorgung kamen viele ums Leben. Die Überlebenden wurden bis Ende 1949 in ihre Heimat oder in die Sowjetische Besatzungszone (SBZ) Deutschlands entlassen.