„Was wäre geschehen, wenn ...“

Kontrafaktische Geschichte beim 6. Kronstädter internationalen Festival für historische Comics

Kontrafaktische Geschichte: Stalin grüßt von der Zinne, Kronstadt/Brașov ist als Stadtname vergessen. Grafik: Doru Badea

Kronstadt kann als rumänische Hauptstadt der Comics gelten. Dieser Behauptung des Direktors des Kronstädter Geschichtsmuseums, Dr. Nicolae Pepene,  muss man zustimmen, wenn man das vielfältige Programm der von ihm ins Leben gerufenen Festivalausgaben berücksichtigt. Da gibt es Ausstellungen, Wettbewerbe, Gesprächsrunden, prominente Gäste, Treffen mit bekannten Zeichnern aus dem In- und Ausland, Vorstellungen von Zeitschriften, Alben, Büchern mit Autogrammstunden, Konzerte und das gleich an mehreren Orten: beim Geschichtsmuseum und am alten Marktplatz, bei der Weberbastei, auf der Allee vor dem Bürgermeisteramt. Das war auch bei der diesjährigen Auflage der Fall – die erste die im Sommer (vom 11. bis zum 13. August) und, nicht wie bisher im Herbst abgehalten wurde. Das vom Kulturministerium finanzierte Projekt wurde vom Kronstädter Geschichtsmuseum umgesetzt und hatte außer den Comics zu historischen Themen, drei Schwerpunkte: 100 Jahre seit der Geburt von Ion Popescu-Gopo – der Gründer der modernen rumänischen Zeichentrickschule; 75 Jahre seitdem es die beliebte französische Comicfigur Pif, der Hund, gibt – ein Anlass für das Drucken einer Jubiläumsbriefmarke der französischen Post die Mircea Arapu entworfen hat; 15 Jahre seit der Herausgabe von „Vekovnici“ in Serbien - das größte Comic-Projekt zu historischen Themen im Balkanraum.

Die ungeschehene Geschichte

Dass diesmal die kontrafaktische Geschichte zum Festivalthema gewählt wurde, ließ der Kreativität der Zeichner/innen einen großen Spielraum, wobei aber die Reflexion zu geschichtlichen Ereignissen und Entwicklungen keinen Abbruch erfuhr. Im Gegenteil – die Auseinandersetzung mit der „ungeschehenen Geschichte“ kann nicht als reine Science fiction, als wildes Herumspekulieren abgetan werden. Was wäre geschehen, wenn … heißt vor allem die geschichtlichen Ereignisse und Zusammenhänge gut zu kennen und einordnen zu wissen. Vor allem für Generationen die in der Schule die Geschichte ausschließlich als Ergebnis des Klassenkampfes kennenlernen konnten und wo die  Volksmassen immer wieder geschichtliche Persönlichkeiten in den Schatten stellte, dürften solche Gedankenspiele, wenn nicht zum Umdenken, dann mindestens zum Nachdenken anregen.

Am Marktplatz vor dem Eingang zum Geschichtsmuseum werden zur Zeit einige der Comics ausgestellt, die solche Episoden alternativer Geschichte illustrieren. Dabei kommen Ereignisse vor wie der Fall Konstantinopels (1453), der Erste Weltkrieg, der Zweite Weltkrieg, Vlad der Pfählers Überraschungsangriff aufs türkische Lager, das Abdanken von König Mihai wobei stets ein anderer Ausgang vorausgesetzt wird mit allen Folgen die damit verbunden werden könnten. Es geht nicht ausschließlich um rein historische Ereignisse, sondern z.B. auch um den Untergang der Titanic, das Aussterben der Dinosaurier oder Nadias Triumph 1976 in Montreal. Nicht fehlen konnten die Dezemberereignisse von 1989 wobei eine dystopische Zukunftsvision das Lachen ersticken lässt. Eine „Ceaușescu-Dynastie“ mit einem neuen Nicolae Ceau{escu, der Enkel, an der Macht, wäre eher Horror als Witz, wie auch ein Bürgerkrieg, wenn der Diktator überlebt hätte. Oder Kronstadt mit einer riesigen Stalin-Statue auf der Zinne, falls Siebenbürgen zur Sowjetrepublik erklärt worden wäre.

Die echte Geschichte rumänischer Comics

Einen interessanten geschichtlichen Überblick rumänischer Comics bietet die Ausstellung entlang der Allee vor dem Bürgermeisteramt. Aus der von Nicolae Pepene verfassten Zusammenfassung erfährt man, dass die ersten Comics 1891 in der Zeitschrift „Amicul Copiilor” als Bildgeschichten, übernommen von deutschen und österreichischen Zeitschriften, erschienen sind. Die ersten original rumänischen Comics hat fünf Jahre später C. Jiquidi (1865-1899) gezeichnet und in der „Revista Copiilor” veröffentlicht. Sie erinnern irgendwie an Max und Moritz und beinhalten ein erstes Stereotyp rumänischer Comics und zwar „Wer wie ich handelt, dem ergeht es wie mir” (a la Struwwelpeter). Der Historiker Dr. Pepene weist darauf hin, dass bereits zu Zeiten der beiden Weltkriege, erst recht in den Jahren des kommunistischen Regimes, die Comics nicht nur der Unterhaltung sondern auch der Propaganda dienten. Das war der Fall mit der Besetzung von Bukarest durch deutsche Truppen im ersten Weltkrieg oder rund zwanzig Jahre später, als in der Reihe „Die Erlebnisse des Soldaten Neață” die russischen Soldaten stets als dumm, faul und betrunken dargestellt wurden. Die ersten historischen Comics erschienen im kommunistischen Rumänien 1957 in der Zeitschrift „Cravata roșie” und hatten die Ausbeutung der Völker Südamerikas durch die Kolonialherren sowie die Sklaverei zum Thema. Nach 1968 erfährt die Comics-Veröffentlichung einen Aufschwung. In „Cutezătorii” und „Luminița” wird den kleinen Lesern die kommunistische Sichtweise der Landesgeschichte auf angenehmere Art als in der Schule beigebracht. Mihai der Tapfere ist eine oft dargestellte historische Gestalt. Später erscheint Burebista als Held, wobei Pepene diesen dakischen König als ein Ceau{escu der rumänischen Antike beschreibt, was auch umgekehrt gelten sollte – der kommunistische Diktator könnte quasi als Verkörperung des sagenhaften Dakerkönigs im 20. Jahrhundert gelten. Andere Stereotypen sind leicht festzustellen: die Hauptfeinde der Einheimischen bzw. später der Rumänen waren die Römer in der Antike, die Türken im Mittelalter und die Deutschen im Kontext des zweiten Weltkrieges als in der kommunistischen Geschichtsschreibung undifferenziert vom „faschistischen Joch” die Rede war. Kein Wort, also kein Bild und keine Geschichte, wurde über das rumänische Königshaus verloren. Ein weiteres Stereotyp: die Nebenrolle die Frauengestalten in den historischen Comics jener Jahre einnahmen. Sie waren als Mütter, Schwestern, Töchter stets im Dienste der Männer. Die einzige Ausnahme ist Ecaterina Teodoroiu und später eine historisch nicht belegte Mädchengestalt (Măriuca) in den Schlachten an der deutsch-rumänischen Front im ersten Weltkrieg.

Die Auszüge an den Schautafeln sind gut ausgewählt und ermöglichen eine Zeitreise in vergangene Jahrzehnte mit vielen Details zum damaligen Alltag und zu den offiziell geförderten und durchgesetzten Auffassungen betreffend die Landesgeschichte. Es ergibt sich unweigerlich ein Kontrastbild zur heutigen Zeit, wo die Geschichte bei dieser Festivalauflage neu erfunden bzw. fortgesetzt werden konnte.