Dass die Dichter aller Zeiten sich für die Natur begeistert haben, ist keine Neuigkeit. Im Falle der unlängst im Hermannstädter hora Verlag erschienenen Erzählung von Joachim Wittstock „Forstbetrieb Feltrinelli. Mythos und fragmentarischer Realitätsbestand“ geht es um die gestandene Liebe eines Schriftstellers zum Wald. Die Motti von Adalbert Stifter und Heimito von Doderer mit detaillierten Waldbildern und -beschreibungen, die Joachim Wittstock zutreffend ausgewählt hat, stimmen den Lesenden gleich zu Beginn der Lektüre in die Atmosphäre ein. Auf dem Cover des Buches bekennt Wittstock, dass ihn der Wald, vor allem der Karpatenwald, als Naturausschnitt am ehesten kennzeichne. Eine Erklärung dafür sind die Bergwiesen und Waldhänge seiner Kronstädter Kindheit, die er stets gern zu durchstreifen pflegte. Die Erzählung weist somit einen autobiografischen Zug auf, es ist aber nicht der einzige, der die Lektüre lohnend macht. Der Name Feltrinelli lässt an ein bekanntes Verlagshaus und an eine Kette von Buchhandlungen in vielen italienischen Städten denken. Aber aus der Vorbemerkung des Autors geht hervor, dass es sich in der Erzählung um Forstbetrieb und Sägewerk Feltrinelli in Talmesch/Tălmaciu, unweit des Alt-Durchbruchs durch die Südkarpaten, handelt. Am Ende der Erzählung schreibt Wittstock in den Anmerkungen, dass ihm der Name der bekannten Mailänder Firma Feltrinelli seit seiner Kindheit vertraut war.
Wittstock versteht es, wirtschaftsgeschichtliche Momente mit lokalhistorischen Fakten und landeskundlichen Themen so zu verknüpfen, dass das Erzählte äußerst spannend und glaubhaft wirkt. Zur Struktur der Erzählung meint der Autor, sie sei eine „Dokufiktion“, was so viel bedeutet, dass Tatsachen mit fiktionalen Einschüben gemischt werden, die meines Erachtens der Erzählung einen hohen Grad an Plausibilität und einen bemerkenswerten ästhetischen Wert verleihen. Zu den Fakten gehören die Geschehnisse aus dem Jahr 1916, als das Fabriksgelände der 1907/08 gegründeten Firma Feltrinelli zum Kriegsschauplatz wurde, weiterhin Episoden aus der Volksgruppen-Zeit der Siebenbürger Sachsen sowie aus dem Jahr 1944, als ein Brand die Haupthalle zerstörte.
Der Vertreter der Firma Feltrinelli, Luigi di Brunello, ist bemüht, dort weiterzumachen, wo die Firma 1914 Baumschlägerung und Holzverarbeitung hat einstellen müssen. Eindrucksvoll im bewährten feinfühlig-diskreten, detail- und bildreichen Erzählstil Wittstocks sind die Stellen über die italienischen Konstellationen geschildert, die ebenfalls einen autobiografischen Hintergrund haben, wie den Anmerkungen zu entnehmen ist. Erwähnenswert sind die Anspielungen auf zahlreiche siebenbürgische Ortschaften wie z. B. Alzen, Leschkirch, Heltau, Talmesch, Kronstadt, Hermannstadt, Hammersdorf, Westen, Freck u. a., die von gründlichen geografischen und historischen Kenntnissen des Autors sowie von seiner Vertrautheit mit der Landschaft zeugen. Bei den schönen Fotos im Anhang handelt es sich um ältere und neuere Aufnahmen vom Ivan- und Zoodttal, die zum Teil von Inge und Joachim Wittstock stammen und dem Lesenden den Verlauf der Geschehnisse anschaulicher werden lassen.
Die Hauptgestalt heißt Ahrnroder. Der Name ist ein Pseudonym, das dem Autor für den Erzähler der Geschichte von Feltrinellis Holzfirma passend schien, denn ein „Ahorn-Roder meldet sich hier zu Wort“ (S. 89). Auch sie trägt meines Erachtens autobiografische Züge, wenn man die Lust am Erkunden und Erforschen bedenkt, der Wittstock in seinem gesamten Schaffen folgt. Ahrnroder ist als neu eingestellter Lehrer in Heltau von Anfang an bestrebt, Näheres über die Besitzer und die Geschichte des Forstbetriebs zu erkunden. Seine Vermieterin, Frau Kinn, macht ihn mit Herrn Franz Scheib, einem ehemaligen Buchhalter der Firma Feltrinelli, bekannt. Er lernt bald auch den Unternehmer Gustav Emrich kennen, der bis zur Enteignung eine Parkettfabrik im „Regat“, in Craiova, besessen hatte und nun in seinem Heimatort Heltau lebte. Ahrnroder erfährt, dass im Krieg ein Teil der großen Halle des Sägewerks eine Reparaturwerkstätte für Flugzeuge, der Fliegerhorst F (von Feltrinelli), war. 1944 begannen englische und amerikanische Bomber die Werkanlagen zu beschießen. So kam es im Sommer des Jahres 44 zu einem Brand in der Haupthalle, wobei die meisten Holzvorräte, Maschinen und Gatter vernichtet wurden, sodass von der Riesenhalle nur Mauerreste und schadhafte Stahlgerüste übrig blieben.
Eine Stärke der Erzählung sind die unterschiedlichen Ebenen und Erzählperspektiven, aus denen heraus eine Gestalt in den Verlauf der Handlung eingebunden wird. Das ist der Fall mit dem Prokuristen und Verkaufsleiter Tobias Wegmeth, mit dem Theologen Harald Benning, dem Priester Borza, mit dem Geschäftsmann Luigi Brunello und seinen Töchtern Giuliana und Cecilia, der Priesternichte Aglaia, dem Schweizer Meinrad Hürlimann, mit dem Lehrer und Geschichtsforscher August Ludwig Ebling sowie mit anderen sehr gut porträtierten Gestalten.
Die Erzählung ist eigentlich ein kleiner Roman „in nuce“, denn Handlung und Helden haben auf verhältnismäßig wenig Buchseiten die Breite und Tiefe der beliebten Prosagattung. Hier zeigt sich die erzählerische Kunst eines erfahrenen Romanciers.
Eine besondere symbolische Bedeutung kommt in der Erzählung dem Motiv der Schlange zu. Eine Quelle in Freck, die Gebirgswasser führt, fließt nämlich aus einem Schlangenkopf und ist in der Überzeugung der Leute ein Gesundbrunnen, der sie von Krankheiten heilt. Also auf Glück und Gnade der Schlange, hebt der Autor hervor. Es wird auf die Bedeutung des Tiers im alten Ägypten hingewiesen, wo die Schlange die unvermessene, völlig ungegliederte, einfach dahingleitende Zeit verkörperte, so der Autor aus dem Mund des Pfarrers Borza. Diese in keiner Hinsicht bestimmte Zeit schützt die Menschen vor Krankheit, nicht die in Monate, Tage, Stunden, nach Kalender und Uhren eingeteilte Zeit. Es ist also ein unmathematisches Zeitempfinden nötig, um die Wirksamkeit der Schlangenkopfquelle zu verspüren. Pfarrer Borza ermutigt den misstrauischen Italiener Brunello, aus der bescheidenen, unauffälligen Quelle zu trinken. „Aber Sie werden vom Wasser unteilbarer Zeit trinken und sich an ihrer Fülle und Unbegrenztheit erfrischen.“ Das Gleiche gilt für den Leser und die Leserin der Erzählung, die bei der Lektüre eine ähnliche „Wunderkur“ erleben. Auch bei den alten Griechen und in den griechischen Niederlassungen am Schwarzen Meer galt die Schlange als heiliges Wesen, das Haus und Familie beschützt. Brunello zeigt sich skeptisch dieser Auffassung gegenüber, denn dafür muss der Hausbesitz gesichert sein. Dem „sinnigen“ Motiv der Schlange widmet Wittstock viele Überlegungen seiner Gestalten. Einige (so die aus Hannover angereiste Nichte Gundula) sehen in der Schlange das Tier, das schauerlich und abschreckend wirken kann, andere nutzen ihr Erscheinungsbild lediglich aus dekorativen Gründen. Ebling vertritt die Meinung, dass sie als dekoratives Element nur in Zeiten geistiger Verflachung verwendet worden sei (S. 85). Auf jeden Fall nimmt die Schlange eine Sonderstellung in der gesamten Kulturgeschichte ein, schlussfolgert Ebling, der die Zwiespältigkeit des Reptils unterstreicht: einerseits negativ, weil gefährlich (siehe Brukenthals Wappen mit dem gepanzerten Mann, der sein Schwert einer Schlange in den Rachen stößt), andererseits ein Sinnbild der ewig verfließenden Zeit (im Aesculapstab verkörperte die Schlange die Heilkunst).
Als multikulturell gebildeter Siebenbürger hat Wittstock ein besonders feines Gespür nicht nur für seine Muttersprache, sondern auch für Fremdsprachen, was im Laufe der Erzählung immer wieder festzustellen ist. Der italienische Name Feltrinelli erinnert an das rumänische Wort für Brunnen, und deshalb sprechen ihn die Einheimischen „Fontanelli“ oder „Fântrănel“ (S. 55) aus. Die aufgezählten Ortschaften werden mit ihren deutschen und rumänischen Namen erwähnt: „Eine Berghöhe in der Nähe der Lagerhallen hieß, aus kaum mehr erinnerlichem Grund, La Redute, rumänisch populärer ausgesprochen La Reducuri, auf Landkarten zu Deutsch Bei den Redouten angegeben oder Bei den Batterien.“ (S. 54) Die Ortschaft Zoodt wird von den Rumänen Sadu genannt (S. 54) usw.
Ein Satz im siebenbürgisch-sächsischen Dialekt wie beispielsweise „Messän sä ängden lieren? Müssen Sie immerzu lernen“ (S. 9) steigert die Authentizität des Textes. Die Bezeichnung Friesengraben kommt von frieren, sächsisch „fraisen“, und nicht vom Stamm der Friesen, wie man vermuten könnte, stellt der Autor richtig. Es handelt sich demnach um einen Kalten Graben, einen Gefriergraben (S. 53). Der Begriff „Hattert“ (S. 19), aus dem Rumänischen „hotar“ und dem Ungarischen „határ“, bedeutet Gemarkung und deutet auf siebenbürgisch-sächsische Realitäten hin.
In den Anmerkungen am Ende der Erzählung werden alle erforschten Quellen aufgezählt, die zu ihrer Entstehung geführt haben: Friedrich Schneiders Monografie zu Talmesch, Volker Wollmanns industriegeschichtliche Buchreihe, die von Anca Boca Stângaciu zusammengetragenen Daten zur Verwaltung des Betriebs, juridisch-gerichtliche Unterlagen, Dokumentationsmaterial aus dem Teutsch-Haus, „Allgemeine Weltgeschichte“ von Cesare Cantù für das Motiv der Schlange u. a.
Die Neuerscheinung von Joachim Wittstock ist ein literarisches Juwel, das ein fast vergessenes Kapitel der siebenbürgischen Geschichte in den Fokus rückt und somit die einzigartige Schreibtechnik des Autors auch diesmal unter Beweis stellt.