ADZ-Reihe - Das wertvolle Jugendbuch: Nelli Trauerkloß und der Spinner

„Das Gegenteil von fröhlich“ Katrin Strehle Gabriel Verlag, ausgeliehen in der Bibliothek des Goethe-Instituts Bukarest, Calea Dorobanți 32/Pavilion, www.goethe.de/bukarest

Zum ersten Mal sieht Nelli ihn im Park: Mit dem Fahrrad dreht er seine Kurven. Dann klettert er flugs auf einen Baum, hoch und noch höher, holt ein Buch heraus und liest. „So ein Spinner!“, denkt Nelli. Und: „Das muss ich meinen Freundinnen Clara und Lou erzählen“. Was sie ihren Freundinnen nicht anvertrauen kann: Dass die Mama seit Tagen nur noch im Bett liegt, der Bruder alles Geld für Junkfood ausgegeben hat, die fünfjährige Mira täglich von ihr in den Kindergarten gebracht und abgeholt werden muss und der Vater bei seinen kurzen Anrufen aus dem Ausland zu alledem nur meint, sie schaffe das schon, es würde sicher bald wieder besser... Wo doch ihre Familie bei den anderen immer als so cool galt! Und überhaupt, wer will denn mit einem Trauerkloß befreundet sein, denkt Nelli unter Tränen. Runterschlucken, stark sein! Das hat sie von Papa gelernt. Er soll doch stolz auf sie sein können. Vielleicht ist ja morgen wirklich alles wieder beim Alten.

Doch die Tage schleppen sich dahin ohne Besserung. Dazwischen: Momente der Wut, weil alles an Nelli hängen bleibt: Haushalt, Einkauf, die kleine Schwester, der Bruder, der ihr auf der Nase herumtanzt, das Lernen für die Schule - wie soll das denn gehen, wenn Mira auf einem Besen lautstark durch die Wohnung reitet oder wie ein kleiner Ball am Sofa auf und ab hüpft, bis die neue Nachbarin von unten hochkommt und sich beschwert. Nelli verstrickt sich in Ausreden, Lügen, Beschwichtigungen. Tag für Tag schwindet ihre Hoffnung, die Mama sei nur vorübergehend krank, eine schwere Grippe vielleicht, die einfach wieder weggeht. Tag für Tag leere Versprechungen von dieser: Ja, sie wird zum Arzt gehen. Morgen. Übermorgen. Sicher! Aber ihre Augen strafen sie Lügen, blicken durch Nelli einfach hindurch. Zwischen Verzweiflung und Sorge versucht sie, wenigstens Mira vor dem Schock zu beschützen, plötzlich ganz allein und ohne Eltern zu sein. Und Emil ist ihr dabei überhaupt keine Hilfe. Der muss erstmal verdauen, was er auf seinem Handy hütet: ein Geheimnis über Papa! „ Nelli entrüstet sich: „Das hast du doch nicht etwa der Mama gezeigt?“

Langsam fragt sich Nelli, wann und ob sie ihr altes Leben jemals wieder zurückbekommt. Und damit niemand über ihr peinliches Chaos zu Hause erfährt, geht sie mit Mira jetzt in den anderen Park, weit weg, wo niemand sie kennt. Dort hat sie der Spinner eines Tages angequatscht: „Du siehst aus, als könntest du was Schönes gebrauchen!“ Und ihr dann die versteckten Blumen gezeigt: Edelweiß, mitten im Gebüsch. „Clara und Lou werden sich totlachen über diesen Elias“, denkt Nelli da immer noch. Über den rothaarigen Im-Baum-Leser mit den billigen Turnschuhen und den unmodischen Jeans. Über den Barfußgänger, den Selbstgebackenen-Kuchen-an-Fremde-Verschenker, den Briefeschreiber und Papierkranichefalter, den Sterngucker auf dem Dach – nein, das wird sie ihnen lieber doch nicht erzählen. Und eigentlich weiß Nelli gar nicht, warum sie überhaupt tut, was Elias ihr täglich auf kleinen Zettelchen, die er in ihren Briefkasten steckt, aufträgt. Vielleicht aus Verzweiflung? 

Dann kommt der Moment, wo mit Elias’ Hilfe der Knoten endlich platzt. Alles ist besser als keine Veränderung! Kommt ihr Familienleben jetzt wieder ins Lot? Nelli bezweifelt es. Zu klar sieht sie auf einmal ihren Vater und seine aufgezwungenen Prinzipien, die für sie nicht mehr gelten: Sie will selbst bestimmen, was sie von nun an tun und denken soll! Und dazu gehört, auch mal schwach zu sein und zu weinen.


Die monatliche ADZ-Reihe „Wertvolle Jugendbücher“ möchte Kinder und Jugendliche zum Lesen in deutscher Sprache anregen. Die Bücher sind in den deutschsprachigen Bibliotheken des Goethe-Instituts auszuleihen.