„Alles hängt jetzt von euch ab!“

94-jähriger Holocaust-Überlebender spricht vor Schülern

Otto Fülop, 94, spricht im Goethe-Institut vor Schülern Foto: Nina May

Fast 95 Jahre alt ist Otto Fülop, und er hat sich einst geschworen, zu reden, solange er am Leben ist. Zu reden über die Schrecken des Holocaust, die er selbst erlebt hat, als 13-jähriger Junge: Auschwitz – Birkenau – Mauthausen..., die Arbeits- und Vernichtungslager des Dritten Reichs. „Und nun müsst ihr die Botschafter sein“, richtet er sich der Historiker an die Schüler aus zwei Bukarester Schulen, Goethe-Kolleg und Laude-Reut, die den Saal im Goethe-Institut am 22. Januar füllen, neben den Botschaftern Israels und Deutschlands, den Vertretern des Auschwitz- und des „Elie Wiesel“-Instituts. Und rät ihnen, für ihre Freiheit und Demokratie zu kämpfen, koste es, was es wolle. 

Dass Freiheit nicht selbstverständlich ist, musste Otto Fülop nach der Annexion Nordsiebenbürgens an Ungarn erfahren, damals unter der Diktatur von Horthy. Mit regen Äuglein und hellwachem Geist erinnert er sich, wie daraufhin die Schikane gegen die Juden begann. Zuerst wurden die Wertgegenstände – Felle, Gold oder Geld – konfisziert, dann bestimmte Berufe verboten, dann mussten sie den gelben Judenstern tragen, zehn Zentimeter groß. „Eines Morgens kamen Gendarmen mit Hahnenfedern, wir sollten schnell nehmen, was wir tragen konnten und uns in der Schule versammeln.“ 170 Leute verbrachten dort mehrere Tage unter schlechten hygienischen Bedingungen, bis sie mit Pferdewägen nach Neumarkt/Târgu Mure{ ins Ghetto gebracht wurden. „Ich habe nicht verstanden, was wir getan haben.“ 

Sein Blick schweift in die Ferne. Er denkt an jene, die mit ihm in den Lagern waren – „über eine Million Leute, darunter viele Kinder, wurden ermordet.“ „Ich mag keine Statistiken“, fügt er an. „Denn hinter jeder Zahl verbirgt sich ein Leben. Eine Hoffung. Ein Gedanke an die Zukunft.“ Sie hätten wie er später Professoren, Ingenieure oder Wissenschaftler werden können... „Aber sie waren Juden. Deswegen waren ihre Leben von Anfang an beendet, ohne Schuld.“

Nach einem Monat im Ghetto wurden sie erneut zu einem Bahnhof gebracht. Mit Viehwaggons ging es nach Auschwitz. 80 Leute in einem Waggon, kein Essen, aber zwei Eimer: einer für Wasser und einer als Klo. Otto hatte Glück: In seinem Waggon gab es keine Toten. Ankunft in Auschwitz an einem Sonntagmorgen, 29. März 1944: Die Waggontür geht auf, infernalisches Geschrei, Hunde bellen, Befehle werden gebrüllt. „Man hat uns aus dem Waggon gestoßen.“ In Minuten wurden Männer und Frauen getrennt, keine Zeit, die Mutter oder die Oma zu umarmen. Blindlings folgt er dem Vater. Ein Arzt teilt erneut ein: links, rechts, links. Links: alte Frauen, Schwangere, kleine Kinder, zwei Stunden später in der Gaskammer. „Ich hab nicht geschaut, bin dem Vater nach rechts gefolgt. Ich kam davon, rechts ging es zur Desinfektion.“ Dort hat man ihnen die Kleider genommen und die Köpfe geschoren. „Die Frauen haben sich danach nicht einmal wiedererkannt.“ Mutter und Großmutter hat er nie wiedergesehen.

„ Otto und sein Vater kamen in Baracke E: das Zigeunerlager. „1500 Leute, kaum Platz, und alle Sprachen Europas.“ Es würde einen Roman füllen, sagt er, wie er nach jeder erneuten Selektion mit dem Leben davonkam. Wie er Typhus und andere Krankheiten überstand. „Ich glaubte an Gott. Und ich hatte einen eisernen Willen“, sagt Otto Fülop. Jeder Tag des Überlebens neben der Gaskammer bedeutete für ihn einen Sieg gegen den Feind. 

Der Schlüsselmoment war die Trennung von seinem Vater: „Wenn einer von uns davonkommt, wird er reden“, hatten sie vereinbart. „Solange ich lebe, werde ich sprechen über das, was passiert ist.“ 

Die Sowjetarmee rückt näher, die Lager werden evakuiert. Wer laufen konnte, reihte sich in den Todesmarsch ein, halbnackt in Eiseskälte, streng bewacht, links und rechts der Weg gesäumt von Leichen. „Ich wusste, da würde ich bleiben, wenn ich nicht mehr könnte.“ In offenen Waggons geht es durch Tschechien ins österreichische Lager Mauthausen. In Mauthausen wurden die Juden von den anderen getrennt: Endlösung Krematorium. „Aber ich habe überlebt.“ 

In Mauthausen waren bereits keine Deutschen mehr, es herrschte Chaos und sie mussten erneut das Lager wechseln, drei Wochen Gunskirchen, in Baracken im Wald, „das Schlimmste dort waren die Läuse – so groß wie Schweine“, erinnert sich Otto. „Eines Abends, am 4. Mai, hörte ich Schüsse. Das Tor ging auf. Ein Freund aus Budapest, zwei aus Tschechien und ich sind raus. Der Asphaltweg, voller Gefangener aus anderen Lagern, führte nach Wels.“ Dort hat die US-Armee die Gefangenen im Sanatorium interniert und sich gut gekümmert, erzählt Otto Fülop. „Ich nahm von 30 Kilo auf 40 zu.“ Weil er nicht wusste, dass der Vater nicht mehr lebte, ist er danach heimgekehrt. „Sonst wäre ich nach Israel ausgewandert, ich war jung.“ 

„Ihr seid jetzt so alt wie ich damals“, richtet er sich an die Schüler, „deswegen fühle ich mich euch so nah. Ihr seid jetzt die neuen Botschafter, damit sich die Tragödie nicht wiederholt.“ Mit seinen wachen Äuglein durchdringt er den Saal. „Das alles hängt jetzt von euch ab. Das ist mein Rat.“