In der rumänischen Geschichtsschreibung hält sich bis heute ein Mythos. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges hätten die Rumänen bis auf wenige Ausnahmen unter den Politikern einhellig das „nationale Ideal“ vertreten: Man sei in den Krieg gegen Österreich-Ungarn eingetreten, um sich mit Siebenbürgen vereinigen zu können. Der rumänische Historiker und Spezialist für Entmythologisierung von Geschichtsmythen Lucian Boia weist in seinem Buch „Die Germanophilen“ freilich nach, dass die Elite jener Zeit ganz und gar nicht so eindeutig positioniert war und vielmehr bedeutende Intellektuelle für einen anderen Weg plädierten, und zwar eine Politik der Annäherung an Deutschland. Sein Buch „Germanofilii. Elita intelectuală românească în anii Primului Război Mondial“ (Die Germanophilen. Die rumänische Elite zu Beginn des Ersten Weltkrieges) liegt nun auch auf Deutsch vor:
Im ersten Teil „Die Rumänen und der Krieg“ (S. 15-124) bietet Boia eine gut strukturierte Synthese mit den Unterabschnitten „Historiografischer Überblick“, „Parteien, Politiker, Optionen“, „Land, Meinung, Elite“, „Journalisten, Schriftsteller, Historiker und Akademiemitglieder“, „Die Professoren“ sowie „Orientierungen, Neuorientierungen, Desorientierungen“. Diese sinnvolle Gliederung zeigt zugleich den Orientierungsrahmen Boias auf.
Im zweiten Teil porträtiert er unter dem Titel „Menschen – Ideen – Einstellungen“ (S. 127-314) nicht weniger als 61 herausragende „germanophile“ Intellektuelle: Politiker, Schriftsteller, Publizisten und Wissenschaftler. Er stellt deren Haltungen anhand eigener Texte und Dokumente jener Zeit vor. Laut Boia hatten die Rumänen, die sich für Deutschland aussprachen, kulturelle und geopolitische Motive. Die kulturellen Motive hätten ihren Ursprung im „Modernisierungs- und Okzidentalisierungsprozess der rumänischen Gesellschaft im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert. Rumäniens große Vorbilder zu jener Zeit waren Frankreich und Deutschland“. Außerdem standen die Rumänen in Siebenbürgen der deutschen Kultur ohnehin näher.
Die Anhänger der Entente hofften, Frankreich und Großbritannien würden Russland im Zaum halten können; die Germanophilen waren skeptischer: Was nützte ein Großrumänien, das am Ende von Russland geschluckt würde? Wobei die vor allem von den Germanophilen beschworene „russische Gefahr“ in der kommunistischen Variante nach dem Zweiten Weltkrieg zurückkam. Der paradoxe Kriegsausgang, dass Rumänien den Krieg zwar verlor, dafür aber Bessarabien von Russland, die Bukowina von Österreich und Siebenbürgen von Ungarn erhielt, wirbelte die Welt der germanophilen Intellektuellen durcheinander.
Boia stellt die „Germanophilen“, ihre Überzeugungen, Beweggründe und Argumente sorgfältig vor. Er zeigt, wie sie sich während der deutschen Besatzung verhielten, welchen Anfeindungen sie während des Krieges und danach ausgesetzt waren und wie sie nach dem unerwarteten Sieg der Gegner politisch und intellektuell überlebten. Dabei kommt auch manche Haltung „von fast pathologischer Labilität“ (S. 115) zum Vorschein. Wobei er explizit die Frage nach „gut“ oder „böse“ nicht stellen will. Es geht ihm nicht um Urteilen, sondern um Verstehen.
Die auch unter den politischen, medialen und intellektuellen Eliten vorhandene, durchaus nachvollziehbare Begeisterung über die „Vollendung der nationalen Einheit“ als Ergebnis des (verlorenen!) Krieges und Höhepunkt der rumänischen Geschichte ließen laut Boia den Kriegseintritt Rumäniens 1916 gegen Österreich-Ungarn unter den Leitmedien und führenden Akteuren umso berechtigter erscheinen, sodass alternative Lösungsvorschläge oder Vorbehalte jener Zeit nur noch marginale Bedeutung erlangten. Boia dazu: „Die Träger dieser Vorstellungen, die ohnehin in der Minderheit waren und deren Zahl in späteren Geschichtsdarstellungen noch stärker reduziert wird, wurden entweder völlig diskreditiert oder aber ihr ‚Fehlverhalten‘ wurde mit der Zeit auf subtile und effiziente Weise relativiert“ (S. 15).
Das Wichtige an dem Buch ist nun, dass Boia wiederum diese Einseitigkeit relativiert und in der Synthese wie in den Einzeldarstellungen überzeugend belegt, dass das Meinungsbild der Eliten in den geistigen Zentren des Altreichs Bukarest und Jassy/Ia{i keineswegs so eindeutig war, wie es die rumänische Historiografie vor allem in der Zwischenkriegszeit, vor allem aber in der späteren nationalkommunistischen Phase Rumäniens, gerne gehabt hätte.
Der Historiker zitiert dazu eine Darstellung aus einem Band von 1987, wo es heißt: „Die Einstimmigkeit des politischen Spektrums widerspiegelte also das Bestreben des gesamten Volkes und beeinflusste wiederum die öffentliche Meinung im freien Land und jenseits der Berge. So herrschte die feste Überzeugung, dass die rasche Umsetzung der nationalen Vereinigung nur durch den unverzüglichen Kriegseintritt gegen Österreich-Ungarn zustande kommen würde.“ So zu lesen in dem Historikerband von 1987 „România în anii primului război mondial“ (dt. Rumänien in den Jahren des Ersten Weltkriegs; zitiert bei Boia, S. 20), wobei bis heute noch ähnliche Darstellungen zu lesen sind.
Die Germanophilen hatten es gegen die vorherrschende Tendenz durchaus schwer, machten sich aber auf dem Markt der Meinungen durchaus bemerkbar, wie Boia nachweist. Deutschland wurde von den Germanophilen dabei als Antithese zu Russland dargestellt, auch im Blick auf Politik, Moderne, Kultur und Zivilisation, Frankreich als Mythos, der in einer „fast irrationalen Zuneigung“ idealisiert und weit überschätzt werde. Oder, wie Boia es für Tudor Arghezi zusammenfasst: Deutschland gilt als Hort von Effizienz und bester Organisation, Frankreich als oberflächlich und dekadent, England als merkantilistisch und zynisch (vgl. S. 140). Es stehen letztlich jene deutschen und französischen Kulturprägungen wieder im Konkurrenzkampf, die schon die geistigen Milieus und Auseinandersetzungen im 19. Jahrhundert bestimmten.
Die Porträts der germanophilen Eliten lesen sich wie ein „Who’s who?“ der rumänischen Geisteswelt. Es gelingt Boia darzulegen, dass bedeutende Kreise Deutschland zuneigten, wobei manche auch eher „russophob“ als „germanophil“ waren. Zu den bekannteren unter den über 60 Persönlichkeiten, die porträtiert werden, zählen Tudor Arghezi, Victor Babeş, George Coşbuc, Dimitrie Gusti (der berühmte Soziologe), Liviu Rebreanu, Radu Rosetti, Constantin Rădulescu-Motru, Ioan Slavici, Mihail Sadoveanu und Constantin Stere.
Auch die germanophile Haltung der römisch-katholischen Kirche, die Rolle der Rumänischen Akademie und die Macht- und Kräfteverhältnisse an den Universitäten werden thematisiert. Die signifikanten Disparitäten zwischen der betont kosmopolitischen Welt der Städte und den sich ethnisch homogen verstehenden Dörfern arbeitet Boia ebenfalls heraus.
Der überaus verdienstvolle Band wurde nun von einem Übersetzerkollektiv ins Deutsche übertragen. Hier gibt es kleinere Unsicherheiten. Warum wird etwa fast durchgehend der Terminus Transsilvanien statt der Eigenbezeichnung Siebenbürgen verwendet? Das muss nicht sein. Auch sollten die Crişana und der Maramureş als Kreischgebiet und Maramuresch wiedergegeben werden (S. 57). Aber das sind Petitessen, die dem Erkenntnisgewinn und dem Lesevergnügen an diesem Band nichts nehmen.