Siebzig Jahre sind die sogenannten schwarzen Pfingsten für die Banater her. In der Nacht vom 17. zum 18. Juni 1951 wurden knapp 12.800 Familien, also über 40.000 Banater, die in Ortschaften nahe der jugoslawischen Grenze lebten, zwangsumgesiedelt: in Viehwaggons geladen und ins Ungewisse geschickt, das sich als die Bărăgan-Steppe entpuppen sollte. Auch die Bewohner von Triebswetter/Tomnatic, dem Dorf, in dem Schwaben und Franzosen aus Elsass-Lothringen angesiedelt worden waren, blieb nicht verschont. Heute bewältigt die Temeswarer Künstlerin Renée Renard mit einem ganz persönlichen Exponat dieses Kapitel ihrer Familiengeschichte: FaBRIQUE heißt die Installation, die mit dem Wortspiel Fabrik und Brique – Französisch für Ziegel – die Essenz des Verlustes, aber auch die Erinnerung an schöne und glückliche Zeiten birgt.
Sieben Jahrzehnte und drei Generationen trennen Renée Renard von dem Unglück, das - wie den meisten Triebswetterern - auch ihren Urgroßeltern Dominic und Margarete Haman zu Pfingsten 1951 zuteilwurde. Ihr Schicksal und das Trauma der Familie ist in der Seele der Banater Künstlerin jedoch so präsent wie noch nie, als man sich genau an dem Jahrestag der Bărăgan-Deportation, dem 17. Juni, in der Kunstgalerie in den Timco-Hallen trifft. An der Wand zunächst eine kleine Bildergalerie bespickt mit Matrikelauszügen, Zeichnungen und Dokumenten, in Form eines Medaillons aufgestellt, wie eine Art Porträt: „Das ist das große Haus, hier die Hochzeit von meinem Opa und meiner Oma vor dem großen Schornstein, hier der große Hof, alles Familienbilder – eigentlich die glückliche Familie in einer Zeit und einem Raum, wo alles noch normal war”, sagt Renard. Es habe sie fast wie ein Blitz getroffen, als sie sich auf das Treffen an diesem Nachmittag vorbereitete und nicht das passende Kleid fand: Wie viel kleiner war doch dieses Dilemma im Vergleich zu jenem ihrer Urgroßeltern... wie musste es wohl vor 70 Jahren in ihren Seelen ausgesehen haben, als sie in wenigen Stunden ihr tragbares Hab und Gut einpacken mussten, ohne zu wissen, wohin und für wie lange es gehen sollte? Mit 68 und 66 Jahren sollte das Ehepaar Haman ihr Haus, ihr Land und die berühmte Haman-Ziegelfabrik für immer verlieren und vier Jahre lang in einem Erdlochhaus in Răchitoasa überleben, bevor sie zurück nach Triebswetter und kurz da-rauf nach Deutschland ausreisen konnten. Ein Dokument zwischen den Bildern belegt die einmalige Reiseerlaubnis ihrer Tochter nach Triebswetter kurz vor ihrer Auswanderung. Es sollte das letzte Mal gewesen sein, dass Aurelia Aurora ihre Eltern sehen durfte. Renée Renard setzt sich mit ihrem Kunstwerk FaBRIQUE mit einem weiteren schmerzlichen Kapitel ihrer Familiengeschichte auseinander, nachdem sie bereits 2013 mit Kunstfotografien die eigene Ausstellung „Ein Weg so lang wie hundert Leben” zur Dokumentation von Deportation, Enteignung und Diskriminierung ihrer Vorfahren dem Temeswarer Publikum präsentiert hatte. Durch ihr jetziges Kunstwerk zeigt sie auf, dass die Bărăgan-Deportation bei weitem nicht nur Zahlen und Statistiken war, sondern über vierzigtausend Schicksale, die geprägt wurden, aber zu denen man problemlos auch die Kinder-, Enkel- und sogar Urenkelgeneration als Leidtragende zählen kann. „Die Geschichte darf nicht vergessen werden”, weiß Renée Renard und erzählt über ihre Haman-Urgroßeltern: „Sie waren die Inhaber der Ziegelfabrik und einer sehr schönen Villa mit Weingarten und Gemüsegarten, einer wunderschönen großen Bibliothek, eines Klaviers, und das alles mussten sie hinter sich lassen, sogar ihre geliebten Pferde, Hunde und Haustiere, und nie wieder bekommen. Zwei Wochen soll ihre Fahrt gedauert haben und dann wurden sie ins blanke Feld ausgesetzt, wo sie trotz ihres hohen Alters auf sich allein gestellt ein Leben neu aufbauen mussten. Sie haben sich eine Grube gegraben und vier Jahre lang darin gehaust, denn mein Urgroßvater war ein sehr kranker Asthmatiker. Er konnte kaum ein paar Schritte gehen, ohne außer Atem zu gelangen und hatte nicht die nötige Kraft, ein richtiges Haus zu bauen. Paradoxerweise hat die trockene Luft der Steppe sein Asthma geheilt.”
Mit der Bărăgan-Zeit, die das Ehepaar Haman im Gegensatz zu rund 1700 Deportierten überlebte, war die Ungerechtigkeit nicht zu Ende. Obwohl Renards Urgroßeltern nach Triebswetter zurück siedelten, war es ihnen untersagt, sich dem Hof und der Ziegelfabrik zu nähern. Von den Nachbarn erfuhren sie, dass das Familienhaus verwahrlost sein soll, dass die Möbel abhan-dengekommen waren, dass der honiggelbe Parkettboden zusammen mit den Büchern verbrannt worden sei. „Bis zum heutigen Tag konnten wir trotz jahrzehntelanger Versuche und Dokumentenstapeln nichts davon zurückzubekommen, nicht einmal das Haus. Mein Urgroßvater hat noch in Deutschland aus dem Gedächtnis heraus eine Karte vom Grundstück gezeichnet, mit genauen Maßen und Angaben über den Zweck der Räumlichkeiten. Aber weder er in Deutschland, noch meine Mutter nach 1989 konnten eine Rückerstattung bekommen – lediglich drei Hektar Feld wurden ihr zugesprochen”.
Der Blick schweift von den Fotos hinüber zu einem Tisch mit zwei Stühlen, die fast dazu einladen, sich da-rauf zu setzen, um selbst fotografiert zu werden (so wie auf den alten Fotos manche Familien aufgestellt werden). Auf dem Tisch stehen jedoch Exponate in Petrischalen, die rötlich-schwarz den Ziegelton nachahmen. Renée Renard macht seit Herbst letzten Jahres – und das soll kein Zufall sein, weil es für sie so etwas wie Zufälle nicht gibt – einen Master in Bildhauerei und Keramik. Durch das Arbeiten mit Lehm, Ton und Keramik möchte sie eine Verbindung zu ihren Ahnen zustande bringen – eine fast überwältigende Aufgabe, wie sie gesteht. Als Abschlussarbeit des Sommersemesters hat sie nebst weiteren Bildhauerstudenten die Sammelausstellung „Forma Speciilor” (Die Form der Spezies) in den Timco-Hallen eröffnet, die dort bis Mitte Juli zu besichtigen ist. „Auf dem Tisch ist das Labor, in dem ich versuche, als Künstlerin wie ein Alchemist in Laborverhältnissen einen Ziegel wieder zum Leben zu erwecken. Aber leider kann man das nicht machen, denn die Vergangenheit kann man nie wieder zum Leben erwecken oder ändern. Die Ziegeln sind andere Formen geworden”. Der dritte Teil von FaBRIQUE ist der beeindruckendste: An die Wand wurde der Plan der Haman-Ziegelfabrik mit Hof und Villa projiziert und mit schwarzer Kohle nachgezeichnet. „Das war ein sehr emotioneller Moment, diese Zeichnung in Groß nachzuziehen, die gepflegte Handschrift eines Lehrers, der mein Urgroßvater war, jeden Strich zu verfolgen... meine Hände haben gezittert, meine Knie auch oben auf der Leiter, dass mir mein Mann dabei teils hat aushelfen müssen. Und mitten in dieser Projektion hängt ein Bildschirm, der Aufnahmen von Ziegelfragmenten unter dem Mikroskop zeigt”, erklärt die Künstlerin.
Mit FaBRIQUE hat Renée Renard ein weiteres Kapitel ihrer Ahnengeschichte abgeschlossen und vielleicht die eine oder andere Wunde auch geheilt: „Ich stehe heute mit großer Erleichterung vor diesem Werk, das für mich eine Übung der Familienforschung und das Zum-Leben-Erwecken von Familienerinnerungen bedeutet hat. Die Vergangenheit kann man nie zurückbringen, aber man kann sie zumindest ehren. Das ist das Einzige, was ich für meine Familie machen konnte: sie zu ehren!”