Bocca della Verità (Der Mund der Wahrheit) als Abbildung auf dem Umschlag in Kombination mit einem pfiffigen Titel – er verspricht mehr als die halbe Wahrheit über Rom, denn wer immer sich einen ersten haptischen, lexikalischen und optischen Eindruck von diesem Text-Bild-Band verschafft, der ist überrascht. Die Autorin und Fotografin Ilse Hehn kombiniert – im Gegensatz zu den zahlreichen Hochglanz-Romführern mit ihren pathetisch aufgeladenen Highlights – prägnant ausformuliertes kunsthistorisches Wissen, witzig-lakonische Kommentare zu berühmten Kathedralen, Kirchen und Denkmälern, kritische Beobachtungen zum römischen Alltag und eine Palette von fünfundsechzig Farbfotografien, die kontrastreich aus wechselnden Perspektiven den äußeren Glanz und den inneren Zerfall Roms erfassen.
Diese auf den ersten Blick und nach den Eingangssätzen überraschenden Eindrücke verdichten und provozieren zugleich. Auf der Seite 14 treffen die Beschreibung „Palatin I“ und die Abbildung „Forum Romanum und Palatin“ aufeinander. Schon der Eingangskommentar wirkt befremdend:
„Heute bringen Ruinen (des Palatin) eine eigene Welt hervor. Zerfressen, verwittert. Der Tod frisst Steine.“ Und wenig später: „Ich empfinde den Ort düster – ein weitfremdes Land, in dem Pinien wie Fallschirme am Himmel hängen.“
Nur eine Seite weiter ein fotografischer Ausblick auf die Farnesischen Gärten unter der lexikalischen Ru-brik „Palatin II“. Nun ist der Blick von süßlichen Düften lichtblauer Glyzinien begleitet und die Autorin gelangt zu einem ganz anderen Eindruck:
„… Rom, diese lärmende, hektische Stadt, gewährt dir hier, was du sonst vergeblich in ihr suchst: Harmonie und Ruhe.“ (S. 16)
Zwei weitere Beispiele aus diesem so ungewöhnlich gestalteten „Fremdenführer“, der mit seinen Licht- und Schatten- wie auch Tages- und Abendbildern nicht nur reizgeladene architektonische Kontraste liefert, sondern auch in die turbulente mythische und realhistorische Vergangenheit einführt, belegen dies eindrucksvoll. Zum einen die „Cordonata“, „Michelangelos großräumiger und von beiden Dioskuren Castor und Pollux flankierter Rampenaufstieg“ (S. 20) auf den Kapitolsplatz bei Tage und zum anderen zwei Seiten danach „Abend auf dem Kapitol“: „Die Dioskuren ruhen aus, ihre Pferde sind getränkt. Am Himmel verwässerte Tinte …“. Gibt es eindrucksstärkere Passagen für eine wirkungsvolle Darstellung von berühmten Sehenswürdigkeiten abendländischer Architektur? Im Gegensatz zu den Glanzpostillen der branchenüblichen Rom-Führer erlebt der Benutzer von „Roms Flair in flagranti“ auf vielschichtige Weise seinen Gang durch die römische Hauptstadt als kontrastreiche Wanderung mit vielen synästhetischen Effekten. Das heißt: er spürt mit der Autorin seine und ihre Seelenstimmung beim Blick auf legendenreiche Gebäude unter der Einwirkung von unterschiedlichen Tages- und Nachtzeiten, er schlendert mit ihr durch die Gassen der Altstadt, lässt sich beim Blick auf die Engelsburg und die Engelsbrücke von dramatischen Episoden aus der Geschichte des Vatikans hinreißen.
Und die unzähligen Skulpturen in den Museen und Kirchen? Welche historischen Figuren und mythenumrankten Gestalten erfasst die Kamera aus welchen Perspektiven? So schwer die Auswahl fällt, sie markiert besonders gelungene Abbilder, wie die „Fragmente der Kolossalstatue Konstantins“ (S. 31), den „Etwasspätgetauften“ (I.H.) ersten christlichen Kaiser, oder „Apoll vom Belvedere“ (S. 45), den die Autorin besonders würdigt, nicht zuletzt auch, weil der berühmte Kunsthistoriker Winkelmann die Skulptur als „das höchste Ideal der Kunst unter allen Werken des Altertums“ bezeichnete. Zwei weitere Beispiele, die bezeugen, wie die Künstlerin Hehn ihren ausgewählten Skulpturen huldigt und ihre Empfindungen auf ihre gespannt lesenden Betrachter und Betrachterinnen überträgt. In der Kirche San Pietro in Vincoli entdeckt sie im rechten Seitenschiff die mächtige Skulptur „Moses“ von Michelangelo: „Der Körper voll übermächtiger zurückgedämmter Kraft, die Augen mit dem bohrend strengen, unbewegten Blick, gewaltige nackte Arme, Hände, in denen flüssiges Erz statt Blut zu fließen scheint.“ (S. 62) Und dann der abschließende Sprung hinüber zu einer Skulptur von Salvador Dali (S. 127), einzig allein um die Unfassbarkeit von Schönheit mit den Worten von Albrecht Dürer zu verdeutlichen. Chebello, ruft da der Tourist und blättert verwundert im Bildband zurück, um sich wieder an den Bild-Text-Legenden zu erfreuen: Spanische Treppe, Palazzo Zuccari mit den zwei mächtig aufgerissenen Mäulern, die Kaiserforen, die Kapitolinische Wölfin mit Romulus und Remus, Vittoriano, Alter des Vaterlands, „ein Monument, das nach Pathos stinkt“ (I.H.), das Pantheon, das allen Göttern Roms gewidmet ist, Piazza di Trevi mit dem berühmten Brunnen, Piazza del Popolo, oder Piazza Napoleone. Noch mehr gefällig? Also zurück in die Kirchen und Kathedralen, um verwunderte Blicke auf Caravaggios „Bekehrung des Paulus“ in der Cerasi-Kapelle von Santa Maria del Popolo zu werfen oder in der Sixtinischen Kapelle das gewaltige Deckenfresko von Michelangelo Buonarroti „Das jüngste Gericht und Erschaffung der Welt“ in staunender Vergessenheit zu betrachten.
Und was ist nun mit Roms Flair in flagranti? Auf Seite 52 hat die Fotografin in einer Trattoria in der Via della Pace das einheimische Rom entdeckt. Ihr Schnappschuss erfasst eine verwitterte Fassade und zwei Tischreihen, an denen salopp gekleidete Gäste sitzen. Der Duft von Spaghetti, Cannelloni und Saltimbocca alla Romana weht durch die Gasse, und die mit der römischen Speisekarte vertraute Autorin bestellt eine Antipasta Bresaola, Salteocca und dazu einen CollePinchio. Beim Lesen und Betrachten solcher Passagen in Ilse Hehns Rom-Cicerone verdichtet sich der Eindruck einer synästhetischen Wahrnehmung von Kulturgeschichte, in der die lexikalische Information und die optische Widerspiegelung der Kunst- und Alltagsobjekte immer wieder mit subjektiv aufgeladenen Emotionen versehen werden. Auf diese Weise entsteht ein Kaleidoskop aus lebendig präsentiertem Wissen in Begleitung von dichten Gefühlen einer Künstlerin. Ein überzeugendes Beispiel ist der Text „Romanesco“ (vgl. S. 120) mit einem Auszug aus einem Sonett des berühmten römischen Dialektdichters Giuseppe Gioachino Belli (1791-1863), in dem Papst Gregor XVI. angeklagt wird. Eine solche Verknüpfung von volkstümlicher Literatur, Kritik an kirchlichen Würdenträgern und deren Widerspiegelung im Kommentar der Autorin gehört zu den besonderen Qualitäten eines Kunstbandes, in dem Rom nicht nur „in flagranti“ erwischt wird, sondern vor allem seine unwiderstehliche Anziehungskraft und seinen überzeitlichen Glanz entfacht. Er ist deshalb ein unbedingt zu empfehlender Begleiter bei Spaziergängen durch die römische Metropole.