Jeder Ort, jedes Objekt und jede Landschaft ist durch eine eigene Atmosphäre geprägt. Es kommt vor, dass bestimmte Umgebungen oder Personen eine Stimmung hervorrufen, die mit eigenen Empfindungen harmoniert. Dies war der Fall bei meinem zweiten Besuch in Czernowitz/Cernăuți in der Bukowina vor rund einem Monat. Meine Verbindung zur Stadt entstand durch die Geschichte einer Czernowitzerin, der meine Großmutter bei ihrer Flucht während des Zweiten Weltkriegs für zwei Jahre eine Unterkunft in unserem Haus im Banat geboten hat. Die Bauwerke und das Ambiente des ehemaligen Kronlandes erinnerten mich an Temeswar, eine weitere Stadt der Habsburger Monarchie, die mir als Banaterin vertraut ist. Die Jugendstilbauten und vielfältige Stuckverzierungen verleihen der Stadt bei herbstlichem Licht ein freundliches und einladendes Erscheinungsbild. Herrscht nicht Krieg in diesem Land? Zum Glück ist die Stadt davon nicht unmittelbar betroffen. Außer Sandsäcken an den Kellerfenstern der großen Gebäude und den Hinweisen für die Rückzugsorte bei Gefahr, mit „Shelter“ in allen Gebäuden gekennzeichnet, waren keine Spuren zu sehen. Bei der Ankunft an einem verregneten Herbsttag präsentierte sich eine prächtige Stadt in europäischem Flair.
Die Stadt wurde 1897 durch das Eisenbahnnetz mit Wien verbunden und 1909 eröffnete der Jugendstilbahnhof, als der Kaiser zu Besuch kam und auch die Kutschfahrten durch die Straßenbahnen der Stadt abgelöst wurden. Von Triest bis Lemberg, von Jassy/Iași bis Czernowitz konnte man per Bahn reisen. Mehr als 140 Jahre lang gehörte die Stadt zur Habsburgermonarchie; das östlichste Kronland (seit 1848) wurde seit 1866 von Czernowitz aus regiert. Damals zählte die Stadt etwa 22.000 Einwohner, während hundert Jahre später mehr als hunderttausend Einwohner verschiedener Sprache und Kultur hier wohnten. Rose Ausländer, in Czernowitz geboren, nannte ihre Stadt einmal „Gestufte Stadt im grünen Reifrock, der Amsel unverfälschtes Vokabular, der Spiegelkarpfen in Pfeffer versulzt, schwieg in fünf Sprachen!“ (Zitat der Stadtführerin). Heute leben etwa 260.000 Einwohner in der Stadt, aber eine genaue Zahl ist nicht zu beziffern, da in der Kriegszeit sehr viele Menschen hierher flüchteten, wo es einigermaßen ruhig und sicher ist.
Die Stadt verfügte ehemals über 65 Synagogen sowie über jeweils eine armenische, katholische und orthodoxe Gemeinde. Im Jahr 2008 beging sie ihr 600-jähriges Jubiläum. Erstmals wurden urkundliche Hinweise auf die Stadt im Jahr 1408 in einem Handelsbrief des moldauischen Fürsten Alexander des Guten (1400–1432) dokumentiert. Unter der Herrschaft Stefans des Großen (1433-1504), Fürst der Moldau, erlebte sie eine Phase des Aufschwungs, da er Angriffe des Osmanischen Reiches abwehrte und zahlreiche Klöster, Burgen und Festungen errichten ließ. Czernowitz war zudem Hauptstadt der historischen Region Moldau. Der moldauische Fürst galt als Verteidiger der Christenheit, stärkte die Souveränität seines Fürstentums und prägte frühzeitig die europäische Identität.
UNESCO-Welterbe: Die Universität
Eines der imposantesten Gebäude der Stadt ist die alte Universität: Wer davorsteht, ist vom roten Backsteinensemble im gotischen, byzantinischen und romanischen und maurischen Stil beeindruckt, das sich in einem Halbkreis vor einer markanten Kulisse öffnet. Die alten Buchen und Fichten des Innen- und Hinterhofs sorgen für ein stimmungsvolles Ambiente. Der Zutritt zum Universitätsgelände ist heute streng reglementiert; Besucher benötigen einen Nachweis oder eine entsprechende Erlaubnis. Diese Zugangskontrolle, überwacht am Haupttor mit goldenen Verzierungen, ist vor dem Hintergrund der aktuellen Sicherheitslage nachvollziehbar. Studierende führen daher stets ihren Ausweis mit sich.
Von der ehemaligen Residenzgasse führt ein Weg zum Haupttor der Universität, die 1875 als Franz-Josef-Universität eröffnet wurde. Der erste Rektor war Constantin Tomaszczuk, ein österreichischer Reichstagsabgeordneter der Bukowina, der den Plan für eine Universität in Czernowitz vorantrieb. Seine Büste ist im Universitätseingang zu sehen. Die Unterrichtssprache war bis 1920 Deutsch. Erst nach dem Anschluss der Bukowina an Rumänien wurde sie durch Rumänisch ersetzt. Nach dem Anschluss der Bukowina an die Sowjetunion, war die Unterrichtssprache Russisch bis zur Wende von 1989. Stets war die Universität eine der führenden des Landes. 2011 erhielt sie die Anerkennung als UNESCO-Weltkulturerbe. Die Institution hat im Verlauf ihrer mehr als 150-jährigen Geschichte zahlreiche Namens- und Profiländerungen (Universitatea Regele Carol I din Cernăuți, Chernivtsi Staatliche Universität, und später Nationale Universität Czernowitz Jurij Fedkowytsch) durchlebt, beeinflusst durch verschiedene Herrschaftsverhältnisse in der Bukowina. Heute trägt die Universität den Namen des ukrainischen Dichters Jurij Fedkowytsch; es ist anzumerken, dass sich nicht alle Studierenden damit identifizieren können, wie einige mir bestätigten.
Kaum noch Germanisten
Zu Beginn der Geschichte der Universität Czernowitz wurden drei Disziplinen angeboten: Theologie, Recht und Philosophie. Im Laufe der Zeit hat sich das Studienangebot jedoch stetig erweitert und umfasst heute zahlreiche weitere Fachbereiche. Ein markanter Wandel zeigt sich im Bereich der Germanistik: Der einst eigenständige Lehrstuhl für Germanistik wurde aufgelöst. Deutsch wird heute lediglich als Fremdsprache im Rahmen des Fremdsprachenlehrstuhls angeboten. Die Gründe dafür liegen unter anderem darin, dass Deutsch an den meisten ukrainischen Gymnasien und weiterführenden Schulen nicht als Fremdsprache unterrichtet wird. Diese Tatsache wurde uns auch beim Besuch rumänischer Schulen in den Dörfern bestätigt. Daher ist es wenig überraschend, dass nur wenige sich für ein Germanistikstudium entscheiden. Im Gegensatz dazu kann der rumänische Lehrstuhl auf eine lange Tradition zurückblicken: Er feierte kürzlich sein 150-jähriges Bestehen. Der erste Lehrstuhlinhaber, Ion Gheorghe Sbiera, ein Mitglied der Akademie, begründete eine Tradition, die durch Persönlichkeiten wie Sextil Pu{cariu, Leca Morariu, Grigore Bostan und Gheorghe Jernovei fortgeführt wurde. Heute wird der Lehrstuhl von der außerordentlichen Professorin Dr. Cristina Paladian geleitet, die die Arbeit ihrer Vorgänger erfolgreich weiterführt. Doch mit nur wenigen Studenten und mangelnder finanzieller Unterstützung ist der Lehrstuhl in der Krise. Im Jubiläumsjahr organisierte Dr. Paladian das Treffen rumänischsprachiger Studierender, Dozenten, Promovierenden und internationaler Gäste im Rahmen des Vereins „Români de pretutindeni“.
Bauten und Park
Ein bedeutsames Bauwerk auf dem Universitätsgelände ist das Gebäude der Residenz des griechisch-orthodoxen Metropoliten, ein ehemaliges Priesterseminar, ein Kloster und eine kreuzförmige Seminar-Kirche im umgebenden Garten und Park. Das zentrale Ensemble der Universität, entworfen und erbaut 1864-1882 vom tschechischen Architekten Josef Hlawka (1831-1908), der Baumeister der Wiener Oper, dient heute nicht nur den Studenten, sondern ist auch ein zentraler Campus und Verwaltungssitz. Ein weiterer Teil der Universität wurde zwischen 1920-1922 vom rumänischen Staat erbaut.
Gegenüber der Universität befindet sich ein Park, in dem ein besonderes Denkmal steht: Die Statue des „Passanten“. Sie stellt Isidor Worobkiewicz (1836-1903) dar, einen bedeutenden ukrainischen Komponisten, Schriftsteller, Priester und Lehrer aus der Bukowina. Worobkiewicz schrieb in ukrainischer, deutscher und rumänischer Sprache und verkörpert somit die bewegte Geschichte der Universität. Die Bronzestatue wurde erst 2023 von dem Lemberger Künstler Fepan Fedoryn errichtet und ist mittlerweile ein Wahrzeichen der Stadt. Sie symbolisiert den Passanten („trecatorul“), der wie zahlreiche Studenten, Touristen und Besucher die Stadt durchquert.
Symposium für rumänische Sprache und Literatur
Vom 8. bis 10. Oktober 2025 fand die vierte Ausgabe des Wissenschaftlich-Internationalen Symposiums „Aktuelle Probleme der rumänischen Philologie“, mit dem Motto „Die Abteilung für rumänische Sprache und Literatur der Universität Czernowitz: 150 Jahre Tätigkeit“ statt. Etwa 100 Gäste hatten sich in den Fluren der Universität versammelt, um im sogenannten „Roten Saal“ neben dem großen Marmor-Festsaal der Tagung beizuwohnen. 72 Teilnehmer haben einen wissenschaftlichen Beitrag vorbereitet. Die Veranstaltung wurde von der Nationalen Universität Jurij Fedkowytsch, dem Institut für Rumänische und Klassische Philologie, dem Zentrum für rumänische Philologie Grigore Bostan und dem Rumänischen Kulturzen-trum Hurmuzachi organisiert, mit Unterstützung der rumänischen Regierung und mit finanzieller Unterstützung der Stiftung „Români de pretutindeni“ des Ministeriums für Rumänen im Ausland. Nach den Begrüßungsworten der Leiterin des Lehrstuhls für Rumänische Literatur und Sprache, Dr. Christina Paladian, sprachen die Vizerektorin der Universität, Iryna Osovska, der Dekan der Philologischen Fakultät, Jaroslaw Redkwa, diplomatische Vertretern wie Alexandru Victor Micula, Botschafter Rumäniens und Irina-Loredana Stănculescu, Generalkonsulin in Czernowitz. Gäste der Ștefan cel Mare-Universität, Suceava, und der Universität Chișinău, von der A.I.Cuza-Universität in Jassy sowie eine Botschaft des Akademikers Ioan-Aurel Pop, Präsident der Rumänischen Akademie, und die Worte von Archimandrit Melchisedec Velnic, Abt des Klosters Putna, eröffneten feierlich die Veranstaltung.
Die aktuellen Probleme der rumänischen Philologie waren Thema des Runden Tisches, bei dem wichtige Momente in der Entwicklung der Geschichte des Instituts für rumänische Sprache und Literatur an der Universität Czernowitz Revue passierten. Persönlichkeiten, die den Grundstein dieser Institution legten und zur Förderung der Werte der Nationalsprache und -kultur beitrugen, wurden erinnert, wie auch die Namen ehemaliger Studenten, die wegen ihrer Ideen vom Sowjetregime verfolgt wurden. Weitere Themen waren die Probleme des Studiums der rumänischen Sprache: Traditionen und Perspektiven, Geschichte und Literaturkritik, rumänische Kultur und Identität, Interkultureller Dialog. Lediglich dreißig Studenten gibt es zurzeit am rumänischen Lehrstuhl. Paladian erklärte, dass dies sowohl wegen des Kriegszustands der Fall sei, aber auch der Politik der ukrainischen Regierung wegen, die mit hohen Stipendien für andere Studiengänge abwerbe. Rumänisch hat das Nachsehen. Mit Sorge betrachten die drei Dozentinnen des Lehrstuhls, Paladian, Dr. Felicia Vrânceanu, Dr. Diana Chibac und der Archivar Petru Grior diese Entwicklung. Falls nichts Entscheidendes unternommen wird (auch von der rumänischen Regierung), wird die Rumänistik bald untergehen in Czernowitz, meint die Dozentin. Trotzdem kämpfe man für die Aufrechterhaltung des Lehrstuhls als ein Symbol des kulturellen Widerstands und der Hoffnung, dass auch zukünftige Generationen den rumänischen Geist in der Nordbukowina weitertragen werden. Im geschichtsträchtigen Roten Saal des Universitätsgebäudes hat am 28. November 1918 der Generalkongress der Bukowina, unter dem Vorsitz von Dr. Iancu Flondor, an dem 74 Mitglieder des rumänischen Nationalrates, sieben deutsche Delegierte, sechs Polen und dreizehn Ukrainer teilnahmen, einstimmig den Antrag der Union der Bukowina mit dem Königreich Rumänien angenommen.
Vorträge
Die Vorträge der Gäste waren so vielfältig wie die Geschichte dieser Universität: Es debattierten Doina Cernica vom Schriftstellerverband Suceava, Maria Olar von der Kulturstiftung Leca Morariu, Dr. Elena Pintilei von der Bukowina-Bibliothek I. G. Sbiera in Suceava und die Stavrophorin des Klosters Voroneț, Gabriela Platon, Dr. Sanda-Maria Ardeleanu und Ion Gh. Sbiera. Dr. Teodora Stanciu von Radio Trinitas und Radio România Cultural sprach über das Radio als Maßstab für die korrekte Artikulation des Wortes. Otilia Hedeșan von der West-Universität Temeswar untersuchte (online) die Welt der Märchen von Eminescu. Der Künstler Dacian Andoni, Mitglied der Timișoara-Gruppe Prolog, kehrte mit seinem Beitrag zu den Wurzeln seiner Familie in Ceahor bei Czernowitz zurück, wo seine Großeltern väterlicherseits geboren wurden. Zur deutschen Vergangenheit von Czernowitz als „Stadt der Bücher“ mit ihren zahlreichen Persönlichkeiten hatte ich mir Gregor von Rezzori ausgewählt und analysierte das ins Rumänische übersetzte autobiografische Buch „Mir auf der Spur“ („Zăpezile de altădată“, Humanitas 2012). Auch ehemalige Studentinnen debattierten über die Zukunft und Chancen des rumänischen Lehrstuhls der Universität. Während nebenan im Marmorsaal, dem großen Festsaal, die Studentenfeier zum 150. Jubiläum stattfand, die Studenten aller Bereiche versammelt tanzten, sangen und jubelten, hatte man draußen bei Einbruch der Dunkelheit schon das Gefühl, als habe man diese Stadt vergessen. Um elf Uhr abends war Ausgangssperre und alle Hotels und Clubs, Restaurants und Kneipen wurden gesperrt. Ein Land im Krieg, wovon die westlichste größte Stadt der Nordbukowina aber noch weitgehend ausgespart blieb.
Die einstige Herrengasse
Schlendert man vom Stadtzentrum entlang der Herrengasse, heute Olga-Kobyljanska-Straße, in Richtung Oberstadt, gelangt man zum jüdischen Friedhof. Vom einstigen Ringplatz (heute Hauptplatz) aus, von dem aus sich die Straßen wie Sonnenstrahlen verzweigen, steht vor der ukrainischen Fahne gegenüber dem blauen Rathaus die Statue des ukrainischen Nationaldichters Taras Schewtschenko (1814-1861). An der Wand prangen die Porträts der Helden, die bei der orangenen Revolution gefallen sind. Vor dem alten Theater, 1905 von Helmer und Fellner erbaut, wo einst ein Denkmal Schiller ehrte, steht jetzt die Statue der ukrainischen Dichterin Olga Kobyljanska (1863-1942).
Auf dem historischen Kopfsteinpflaster der ehemaligen Herrengasse, dessen Ursprung teils auf die k.u.k.-Zeit zurückgeht, erreicht man entlang prächtiger Jugendstilfassaden das Deutsche Haus. Die Kastanien-, Platanen- und Maulbeerbäume, die ich bei meinem letzten Besuch vor über fünfzehn Jahren sah, sind inzwischen verschwunden. Auch die früher mit schwarzen Steinen eingefassten Bordsteine mit Stadtnamen in fünf Sprachen (Czernowitz, Cernăuți, Cernovcy, Cernyvci, Tschernowitz) sind nicht mehr vorhanden. Das Wiener Café, einst beliebter Treffpunkt für Sachertorte und Melange, ist jetzt geschlossen. Auch die markanten Bukowina-Frauenköpfe an vielen Häusern, der Doppeladler und der moldauische Auerochse an Toren und Fassaden, die früher beleuchtet waren, sind nicht mehr so zahlreich. Das Celan-Literaturhaus kündigt zwar Lesungen ukrainischer Autoren im Schaufenster an, doch Hinweise auf ein aktives literarisches Leben im Inneren fehlen.
Auf der Suche nach Paul Celan...
Ich begebe mich weiter auf die Suche nach dem Geburtshaus von Paul Celan (1920-1970). Die kleine Büste des Dichters vom Künstler Ivan Salewytsch in der Holovna Straße von 2002 wurde ersetzt durch eine hohe Granitstatue mit dem Kopf Celans vor einer weißen Mauer, auf der die Verse seiner Todesfuge prangen – auf Ukrainisch. Man bedenke, dass Celan (Paul Antschel) seine Todesfuge zuerst auf Rumänisch veröffentlichte, bevor die deutsche Version erschien. Am 2. Mai 1947 erschien das Gedicht zuerst in einer rumänischen Übersetzung als „Der Todestango“ im „Contemporanul“. In Bukarest, wo er nach seiner Flucht einige Zeit lebte, arbeitete Celan im Verlag Cartea Rusă und übersetzte deutsche und russische Texte ins Rumänische als A. Pavel und verwendete die rumänische Schreibweise seines ursprünglichen Namens Ancel. Das Anagramm Celan tauchte dann später in seinen deutschen Veröffentlichungen auf. In Bukarest begegnete er vielen Surrealisten, darunter Gellu Naum. Vom Platz der Celan-Skulptur suchte ich nun die alte Wassergasse, heute Saksaganski-Straße, wo unter Nummer 5 Paul Celans Geburtshaus stehen soll. Aber wir gelangten laut GPS nur zur Paul-Celan-Straße, eine kleine Straße abseits der prächtigen Straßen der Oberstadt, wo die Familie lebte. Das Haus Nummer 5 der Celan-Straße wurde uns vom Reiseleiter dann als das Celan-Haus gezeigt. Meine Erinnerung sagt etwas anderes: Hier handelte es sich nicht um das Haus von Paul Celan. Hat nicht ein Zeitgenosse gesagt, dass es nicht die Nummer 5, sondern die Nummer 3 war? Also gingen wir weiter in der hereinbrechenden Abendsonne bis zur Saksaganski-Straße Nr. 3, wo wir die schwarze Schiefertafel mit dem Namen und Geburtsdaten des Dichters (deutsch) entdecken, hinter einem großen Kastanienbaum an der Hauswand. Die Gedenktafel für Paul Celan war lange Zeit am falschen Haus Nr. 5 daneben angebracht. Der Eingang ist offen und wir steigen die Innentreppe hoch. Hier wohnen heute gewöhnliche Mieter und ein Büro ist im Erdgeschoss. Keine sonstigen Hinweise deuten auf die Ursprungswohnung der Familie Antschel hin. Die von Wohlstand zeugenden Häuser der Straße wurden größtenteils saniert, mit Geldern deutscher und österreichischer Stiftungen, wie uns mitgeteilt wird. Paul Celan hat seine Geburtsstadt nach dem Anschluss an die Ukraine nie wieder besucht. Vor fast zwei Jahrzehnten lebte noch der letzte Zeitgenosse Celans in der Stadt: der Dichter Josef Burg (1912-2009), der 97-jährig in Czernowitz verstarb.
… und Gregor von Rezzori
In Czernowitz, einer Stadt im Spiegel ihrer Vergangenheit mit reicher multiethnischer Historie, lässt sich gegenwärtig nur noch ein Bruchteil der einstigen kulturellen Vielfalt erkennen. Die Bemühungen zum Erhalt der Vergangenheit beschränken sich überwiegend auf die Initiativen jüdischer Gemeinschaften sowie österreichischer und deutscher Stiftungen. Das heutige Stadtbild zeigt, verglichen mit dem Jahr 2009, eine spürbar abgeschwächte Multikulturalität; vor allem dominiert kyrillische Beschriftung, was den Zugang für Fremde erheblich erschwert. Dem gebürtigen Czernowitzer Schriftsteller Gregor von Rezzori (1914–1998) wird erst seit 2020 mit einer Statue vor der Universitätsbibliothek gedacht – obwohl seine Büste schon 2003 bei Ausgrabungen entdeckt wurde. Zu seinem Großvater, einem angesehenen Baumeister im Czernowitz der Donaumonarchie, oder seinem Vater, ein Künstler und Stadtrat, gibt es im öffentlichen Stadtbild keinerlei Hinweise.
Von den vielen berühmten Literaten der Bukowina hat Rose Ausländer (1901-1988) seit 2003 ein Denkmal am Türkenplatz. Zusätzlich ehren Gedenktafeln im Zentrum Persönlichkeiten wie Emil Franzos, Mihai Eminescu und Ciprian Porumbescu (letztere am rumänischen Haus) und vielleicht noch einige andere. Für eine vertiefte Recherche zu den vielfältigen multikulturellen Einflüssen der Stadt bietet jedoch die Universitätsbibliothek mit ihrem Bestand von über 1,6 Millionen Werken eine besonders wertvolle Informationsquelle, die man auf Antrag nutzen kann.











