Der aus Bukarest gebürtige, seit Anfang der 90er Jahre in Wien ansässige Architekt Horia Marinescu hat Ende Juni zwischen 2019 und 2020 entstandene Grafiken in der Wiener Galerie für zeitgenössische Kunst „12-14 contemporary“ (Schleifmühlgasse 12-14), deren Mitglied er ist, im Rahmen der Ausstellung „the romanian 1984 & uranus now“/ „Das rumänische 1984 & Uranus heute“ zur Schau gestellt. Die Ausstellung wurde in Zusammenarbeit mit der Fachzeitschrift „Zeppelin“ und der Nichtregierungsorganisation „ideilagram“ organisiert, welche ihrerseits alte Fotos von dem 1984 auf Ceaușescus Befehl völlig niedergerissenen Bukarester Stadtviertel Uranus und gegenwärtige Aufnahmen vom Platz, wo früher Häuser standen, mit begleitendem Text zeigen.
Die kurzlebige Ausstellung erregte noch bei ihrer Vernissage das Interesse zahlreicher Kunstfreunde sowie Architekten. Zu ihrem Erfolg hat neben den Autoren auch die japanische Pianistin und Klavierpädagogin Nobuko Akiyama beigetragen. Mitgewirkt hat sie nicht nur mit einer meisterhaften Darbietung, sondern mit ihren eigenen Kompositionen, die sie Horia Marinescus Werke gewidmet hat. „Eines Tages, in einer Szene von Solaris. Suche nach der Vergangenheit“ steht in Wechselwirkung mit der Grafik und wird in deren Begleitung in Partitur-Form gezeigt.
Marinescu zeichnet sich als ein nostalgischer Bewunderer seiner Geburtsstadt Bukarest und zugleich der Gastgeberstadt Wien sowie Berlin aus. Letztere erinnert ihn an seinen Heimatort dadurch, dass sie auch aus der Vereinigung kleinerer Bezirke und benachbarter Dörfer organisch herangewachsen ist, durch ihre eklektische Architektur und durch die abwesende eigentliche Stadtmitte, schrieb der Architekt 2005 in einem Beitrag für das Kulturblatt „Dilema veche“. Im Fall der deutschen Stadt ist dies auf ihre politisch-historisch bedingte Teilung und der daraus erfolgenden Bipolarität zurückzuführen. Bukarest dagegen erlitt keine buchstäbliche Teilung, sondern eine eher psychologisch wirkende Dezentralisierung, angefangen mit dem kommunistischen Mammutbau „Haus des Volkes“ (rum. „Casa Poporului“), welches heute das Parlament beherbergt. Der Begriff Mammutbau stammt von den Stadtplanungsutopien der 60er Jahre, als Architekten Entwürfe für Großbauten, welche das Stadtbild dominieren sollten, anfertigten.
Die erwähnten Mammutbauten wurden wegen ihrer Rekordgröße – wenigstens für Ausländer – zu neuen Wahrzeichen und Zentren Bukarests. Der Kommunismus feierte dadurch den Sieg des menschlichen Schaffens über die Natur.
In Horia Marinescus drei Titel tragenden digitalen Radierung „Bukarest, Exorzismus /die Stadt wächst nach /Solaris, eine bessere Zukunft“ wird in einer Geste zeichnerischen Exorzismus das „Haus des Volkes“ in Trümmern dargestellt. In einer (idealen) imaginären Zukunft präsentiert der Architekt die Auferstehung der Natur und des im Auftrag von Ceaușescu zerstörten Uranus-Viertels als Zeichen der Versöhnung des kollektiven Bewusstseins mit der Vergangenheit, indem er das Stadtviertel im postmodernen Stil rekonstruiert. Zwischen den Ruinen des „Hauses des Volkes“ wächst die ehemalige Altstadt nach.
„Entlang der Horizontalen ist die verschwundene Straße meiner Kindheit nachgezeichnet, Haus für Haus. Verschiedene Szenen und Elemente lassen sich als intertextuelle („intergrafische“) Zitate entdecken: die Ruinenlandschaften von Claude Lorrain, die Radierungen von Giovanni Battista Piranesi, die Gärten des Bukarester Malers Horia Bernea, Szenen aus Andreij Tarkowskis Sci-Fi-Film „Solaris“, erläutert der Architekt im begleitenden Text der Grafik.
Horia Marinescu hat vor der Wende das Deutsche Gymnasium, das heutige Goethe-Kolleg, in Bukarest abgeschlossen und ist Absolvent der hauptstädtischen Universität für Architektur und Stadtplanung „Ion Mincu“. Der Titel Magister Archiecturae wurde ihm 1997 von der Akademie der bildenden Künste in Wien verliehen.
Er ist Mitglied des Rumänischen Architektenverbandes (OAR) und war zwischen 2001 und 2005 Mitglied der rumänischen Künstlergruppe in Wien „Puntea“/ „der Steg“. Außerdem hat Horia Marinescu Artikel in Fach-und Kulturzeitschriften wie „architektur.aktuell“ (Wien), „Arhitectura“, „Zeppelin“, „Dilema veche“, „Secolul 21“, „Arhitext Design“, „Iglu“, „Observator Cultural“ (Bukarest), „Kontakt - Magazin für Kunst und Zivilgesellschaft in Mitteleuropa“ (Erste Bank, Wien), „Wiener Blätter“ (Wien) veröffentlicht.
Seine zweite ausgestellte Grafik entstand zwischen 2019 und 2020 und wurde „Alp(en)Traum mit Wittgenstein-Haus“ betitelt. Das Bild zeigt den rumänischen Diktator Nicolae Ceaușescu und den österreichischen Politiker Jörg Haider schwatzend die Treppe vor dem kopfüber in der Luft schwebenden Haus Wittgenstein (3. Wiener Gemeindebezirk Landstraße) heruntergehen.
Horia Marinescu sucht nach einer Poetik, die von der Wandlung seines Lebens erzählen soll, zwischen der Wiener Moderne (Wittgenstein), dem Rumänien von Ceaușescu und dem Österreich von Jörg Haider. Scheinbar gibt es keine Verbindung zwischen dem rumänischen Diktator und dem österreichischen Politiker. „Ich erhielt unter dem Ersten meinen ersten rumänischen Ausweis, und unter dem Zweiten meinen ersten österreichischen Pass. Die Diktatur des Ersten verfolgte mich in meiner Kindheit und Jugend, die Ausländerfeindlichkeit des Zweiten vergiftete meine Studentenjahre in Wien“, erinnerte sich Marinescu.
Mit dem Wittgenstein Haus beschäftigte er sich intensiv, als er ein Essay schrieb, Fotos und Dokumentation für die rumänische Fachzeitschrift „Zeppelin“ anfertigte. Das Haus wurde vom Architekten Paul Engelmann und vom Philosophen Ludwig Wittgenstein für die Schwester des zweiteren entworfen und dient heute nach einigen baulichen Veränderungen als bulgarisches Kulturinstitut.
Das Haus symbolisiert für Horia Marinescu die Wiener Moderne und die Weltoffenheit der Stadt, die (oft schwierige) Beziehung zwischen Architektur und Philosophie. „Es steht für eine verkehrte Welt, in der die Ideale der Moderne durch populistischen Relativismus ersetzt werden. Es ist als Widerspiegelung der Postmoderne, die nicht stilistisch, sondern ethisch und gesellschaftlich als ein Verlust der Orientierung gemeint ist“, erklärte der Architekt.
Somit zeugen die Grafiken Horia Marinescus in der suggestiv betitelten Ausstellung „Das rumänische 1984 & Uranus heute“ nicht von einer Zukunftsdystopie, wie im Orwellschen Roman „1984“, sondern von einer dystopischen Vergangenheit, mit der Marinescu versucht, auf künstlerische Weise zurecht zu kommen. Zudem ermöglicht der Architekt dem Betrachter auch einen Blick in die ideale architektonische Zukunft seiner Geburtsstadt Bukarest.