„Das vereinte Deutschland wird die Gebiete der Bundesrepublik Deutschland, der Deutschen Demokratischen Republik und ganz Berlins umfassen. Seine Außengrenzen werden die Grenzen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland sein und werden am Tage des Inkrafttretens dieses Vertrags endgültig sein. Die Bestätigung des endgültigen Charakters der Grenzen des vereinten Deutschland ist ein wesentlicher Bestandteil der Friedensordnung in Europa.“ So beginnt am 12. September in Moskau 1990 das Nachkriegsdeutschland mit einem Friedensvertrag, der so nicht heißt, aber völker- und staatsrechtlich so behandelt wird: der Zwei-plus-Vier-Vertrag der beiden deutschen Staaten mit den Vereinigten Staaten von Amerika, dem Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland, der französischen Republik und der (damaligen) Sowjetunion.
Diese vier Siegermächte verzichteten in einer gemeinsamen Erklärung am 1. Oktober 1990 auf ihre Rechte und Verantwortlichkeiten bezüglich Deutschlands. Erst dadurch erhielt Deutschland die volle Souveränität. Drei Tage später wurde der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik vollzogen. Darauf-hin ratifizierten das vereinte Deutschland und die Siegermächte den Zwei-plus-Vier-Vertrag am 4. März 1991. Schließlich trat der Vertrag am 15. März 1991 in Kraft. Ein Friedensvertrag, der alle Kriegsgegner des Deutschen Reiches umfasst und auch alle Reparationserwartungen erfüllt hätte, war er nicht, wie die Forderungen vor allem aus Polen (dessen 1, 3 Billionen Euro-Forderung ist 2024 im AA eingegangen) und Griechenland nahelegen. Man könnte sagen, der Zwei-plus-Vier – Vertrag war ein völkerrechtlicher Coup, der die Bundesrepublik Deutschland voll-ends souverän machte und sich im Hinblick auf die Kriegsschäden-Begleichung bei vielen Staaten, die von der Wehrmacht verheert worden waren, elegant aus der Affäre zog, u.a. mit Hinweis auf bilaterale Vereinbarungen der beiden Staaten in Deutschland mit ehemaligen Kriegsgegner-Staaten sowie auf das Londoner Schuldenabkommen vom 27.2.1953, wo sich die damalige Bundesrepublik verpflichtete, Auslandsschulden, d.h. Schulden Deutschlands vor und nach dem Zweiten Weltkrieg, zu zahlen.
Deutschland blieb auf der Landkarte...
Der Zweite Weltkrieg bestimmt immer noch stark die Bewusstseinslage der Deutschen. Jahrestage erinnern immer wieder daran, besonders das Kriegsende vor 80 Jahren am 9. Mai 1945. Der von fast allen Deutschen mitgetragene Eroberungskrieg in West und Ost vernichtete Völker und Staaten, 70 Millionen starben durch diesen deutschen Krieg, der auch den Holocaust bezweckte. Deutschland war völlig zerstört und wurde geteilt. Das war die Quittung. Doch Deutschland blieb auf der Landkarte, was nicht selbstverständlich war. Doch wie war die Bewusstseinslage der (West-) Deutschen? „Dreifach geteilt – niemals“. Das war die Parole der Nachkriegsparteien in der alten Bundesrepublik, die sich im „Kuratorium unteilbares Deutschland“ zusammengefunden hatten, von CDU/CSU, SPD bis FDP.
Zu den Unterzeichnern des Gründungsaufrufs von 1954 gehörten Gustav Dahrendorf, Hermann Ehlers, Ernst Lemmer, Arno Scholz, Louise Schroeder, Paul Sethe, Hans Zehrer und Herbert Wehner. Der Anstoß kam vom Minister für Gesamtdeutsche Fragen Jakob Kaiser, den Namen der Organisation erfand Bundespräsident Theodor Heuss. Den Gedanken zur „Wiedererlangung der Deutschen Einheit in Freiheit wachzuhalten“, war der politische Wille. Denn die alten Ostprovinzen des Deutschen Reiches wurden durch die Potsdamer Erklärungen der Siegermächte vom 6. August 1945 nur unter „vorläufige Verwaltung“ gestellt. Erst in einem Friedensvertrag sollten endgültige Regelungen geschaffen werden; bis dahin bestand die Vorstellung des Fortbestandes des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1937, eine rechtliche Fiktion. An dieser hielten und halten alle Bundesregierungen fest.
Deutsche Einheit schloss historische Provinzen aus
Der politische Wille zur Wiedererlangung der deutschen Einheit, der auch in der Präambel des Bonner Grundgesetzes von 1949 zum Ausdruck kam, bezog sich eben nicht nur auf die Sowjetische Besatzungszone/DDR, sondern auch auf die historischen deutschen Provinzen wie Ost- und Westpreußen, Hinterpommern, Ostbrandenburg und Schlesien. Die Verfasser des Grundgesetzes formulierten offen. Dieses Ziel verfolgten erst recht die entsprechenden Landsmannschaften der historischen Ostgebiete, auch nachdem das Kuratorium unteilbares Deutschland 1992 aufgelöst wurde, das durch die Ostpolitik der Bundesregierung unter Willy Brandt in den 80er Jahren an politischer Relevanz verloren hatte. Nicht wenige der im Bund der Vertriebenen (BdV) zusammengeschlossenen Landsmannschaften (auch aus den Siedlungsgebieten der Deutschen) waren verbittert, hatte man ihnen doch nie klar gesagt, dass die deutsche Einheit sie bzw. ihre Heimatregionen ausschloss und eine Rückkehr in die alte Heimat eine politische Illusion war: eine lange politische Täuschung. Kein Friedensvertrag, dafür das Kunststück des Zwei-plus Vier-Vertrages von 1990.
Tabu-Thema: deutsche Opfer
Im Hinblick auf die unermesslichen Verbrechen der Wehrmacht sowie des Staatsterrorismus‘ von SA und SS und der Berliner NS-Regierung ist im politischen Diskurs lange Zeit die Berechtigung der Frage nach den Opfern der Deutschen klein gehalten worden nach dem Motto „Täter können keine Opfer sein“. Es wurde nicht gefragt nach Opfern unter den über 17 Millionen Wehrmachtssoldaten, die in den Krieg gezwungen wurden, verbluteten oder in jahrelange Gefangenschaft gerieten, nicht danach, wie die Bevölkerung durch den SS- und SA-Terror drangsaliert und in Gefängnissen verschwand, nicht nach Opfern durch den systematischen Bombenkrieg von britischer Royal Air Force (RAF) und United States Arm Air Forces (USAAF). Allein Köln erlebte 262 Luftangriffe, 1,5 Millionen Bomben wurden über dem Stadtgebiet abgeworfen; 300.000 Blindgänger werden vermutet und liegen im Boden (siehe Jörg Friedrichs Studie „Der Brand, Deutschland im Bombenkrieg 1940 – 45“, München 1992). Städte wie Hamburg, Wuppertal, Frankfurt, Dresden und München erinnern an die Vernichtung von Menschen und Kulturdenkmälern. 600.000 Menschen starben im Bombenkrieg. Und zu den Opfern zählen eben auch jene Menschen, die Flucht und Vertreibung erlitten, nämlich 15 Millionen Landleute aus den Ostgebieten. Hinzu kamen die Deportationen in die ukrainischen Bergwerke im Donezk-Becken von hunderttausenden Siebenbürger Sachsen und Banater Schwaben durch die kommunistische Regierung Rumäniens sowie die Deportation der Wolga-Deutschen durch die Sowjetregierung; sie alle waren „die Deutschen“. Artikel 116 GG nimmt diese Menschen außerhalb Deutschlands als jene mit „deutscher Volkszugehörigkeit“ wahr, wo es in Absatz 1 heißt: „ Deutscher im Sinne dieses Grundgesetzes ist vorbehaltlich anderweitiger gesetzlicher Regelung, wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt oder als Flüchtling oder Vertriebener deutscher Volkszugehörigkeit oder als dessen Ehegatte oder Abkömmling in dem Gebiete des Deutschen Reiches nach dem Stande vom 31. Dezember 1937 Aufnahme gefunden hat.“
Drei Millionen haben dieses Schicksal nicht überlebt, weshalb man in den Medien diese Zahl gleich abzieht und von 12 Millionen spricht. Etwa acht Millionen kamen nach West-Deutschland, vier Millionen in die DDR, denen man von der SED sogleich den Status „Vertriebener“ aberkannte und sie zu „Umsiedlern“ machte, eine zusätzliche Erniedrigung, ein zweites Trauma.
Versäumnis
Das alles hätte ausgeführt und politisch erläutert werden können, als am 5. August 2025 im wiedererrichteten Stuttgarter Schloss der Vertriebenenverband BdV der Unterzeichnung eines besonderen Nachkriegsdokuments, nämlich der „Charta der deutschen Heimatvertriebenen“ vor 75 Jahren gedacht wurde. Der deutsche Bundeskanzler Friedrich Merz hielt eine Rede, die auswich und zu rasch den Bogen zum Krieg Russlands gegen die Ukraine zog. Was sollen die Erlebnisgeneration der deutschen Heimatvertriebenen, inzwischen in den 90er Jahren, und deren Nachkommen sagen zu solch einem Merz-Satz „Wenn wir Menschen unsere Freiheit leben und gestalten wollen, dann brauchen wir eine Heimat: einen Ort, an dem wir Anerkennung finden können mit unserem Tun und Handeln“?
Zentral ging es um die Passage der Charta, die integrative Wirkung für das Zusammenleben des deutschen Volkes nach Zustrom der wohl 8,1 Millionen Neubürger haben sollte, sich im Kern aber nach Polen, Russland und andererVertreiber-Staaten wie die Tschechoslowakei richtete.
Darin heißt es : „Im Bewusstsein ihrer Verantwortung vor Gott und den Menschen, im Bewusstsein ihrer Zugehörigkeit zum christlich-abendländischen Kulturkreis, im Bewusstsein ihres deutschen Volkstums und in der Erkenntnis der gemeinsamen Aufgabe aller europäischen Völker, haben die erwählten Vertreter von Millionen Heimatvertriebenen nach reiflicher Überlegung und nach Prüfung ihres Gewissens beschlossen, dem deutschen Volk und der Weltöffentlichkeit gegen-über eine feierliche Erklärung abzugeben, die die Pflichten und Rechte festlegt, welche die deutschen Heimatvertriebenen als ihr Grundgesetz und als unumgängliche Voraussetzung für die Herbeiführung eines freien und geeinten Europas ansehen.
1. Wir Heimatvertriebenen verzichten auf Rache und Vergeltung. Dieser Entschluss ist uns ernst und heilig im Gedenken an das unendliche Leid, welches im Besonderen das letzte Jahrzehnt über die Menschheit gebracht hat.
2. Wir werden jedes Beginnen mit allen Kräften unterstützen, das auf die Schaffung eines geeinten Europas gerichtet ist, in dem die Völker ohne Furcht und Zwang leben können.
3. Wir werden durch harte, unermüdliche Arbeit teilnehmen am Wiederaufbau Deutschlands und Europas.
Wir haben unsere Heimat verloren. Heimatlose sind Fremdlinge auf dieser Erde. Gott hat die Menschen in ihre Heimat hineingestellt. Den Menschen mit Zwang von seiner Heimat trennen, bedeutet, ihn im Geiste töten. Wir haben dieses Schicksal erlitten und erlebt. Daher fühlen wir uns berufen zu verlangen, dass das Recht auf die Heimat als eines der von Gott geschenkten Grundrechte der Menschheit anerkannt und verwirklicht wird. So lange dieses Recht für uns nicht verwirklicht ist, wollen wir aber nicht zur Untätigkeit verurteilt beiseite stehen, sondern in neuen, geläuterten Formen verständnisvollen und brüderlichen Zusammenlebens mit allen Gliedern unseres Volkes schaffen und wirken.“
Der Preis der Einheit vom 3. Oktober
Fünf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gab es im deutschen Volk noch wenig von einem umfassenden Geschichtsbewusstsein, gar von einer sog. Aufarbeitung der NS-Terrorzeit, war die Weizsäcker-Rede vom 8. Mai 1985 noch fern, hielt man Claus Schenk Graf v. Stauffenberg meist noch für einen Hochverräter und hatten die Ausch-witz-Prozesse, die Fritz Bauer antrieb gegen alle Widerstände, noch nicht begonnen. Die Ursachen von Flucht und Vertreibung nicht benannt zu haben, ist natürlich ein Malus, diese Erklärung in ihrem Impetus aber rundweg abzulehnen, wie es Micha Brumlik und Ralph Giordano getan haben, nimmt die Zeitgebundenheit dieses politischen Appells nicht zur Kenntnis. Der Kanzler sagte, der Satz, auf Rache und Vergeltung zu verzichten, sei ein kontroverser Satz, weil die Deutschen Europa mit Krieg und Gewalt überzogen hätten und fügte an, dass „die Wirklichkeit eines Krieges“ überall Opfer schaffe, um dann auf Putins Angriffskrieg überzugehen.
Das muss enttäuschen, historisch und politisch. Eine Binsenweisheit, die den deutschen Heimatvertriebenen in beiden Teilen Deutschlands, in der DDR und der BRD nicht gerecht wird, denn diese erbrachten ein Sonderopfer, verloren drei Millionen Menschen, verloren Hab und Gut, das Zuhause seit Jahrhunderten und wurden als Fremdlinge von den Ortsansässigen betrachtet, als „Polacken“ bezeichnet, eben als Menschen zweiter Klasse, die sich hinten anstellen mussten.
Merz hätte einräumen können, dass die Parole „Deutschland – dreigeteilt. Niemals“ in die Irre geführt hat, dass es eine Illusion gewesen sei, der sowjetisch-russische Imperialismus hätte zugelassen, dass die Ostprovinzen des Deutschen Reiches Gegenstand einer „Wiedervereinigung“ hätten werden können, hätte von der „normativen Kraft des Faktischen“ im Völkerrecht sprechen können, wodurch auch Annexionen entgegen der Haager Landkriegsordnung zu Recht werden und vor allem davon, dass der Abschied von Schlesien, Ost- und Westpreußen, Hinterpommern und Ost-Brandenburg der Preis der Einheit vom 3. Oktober 1990 gewesen sei, ein Preis, den die Heimatvertrieben gezahlt hätten und der zu Dank und Anerkennung führen müsse – vom ganzen deutschen Volk und von der Bundesregierung. Und der Kanzler hätte dafür danken müssen, dass die Heimatvertriebenen in den letzten 75 Jahren Brücken geschlagen hätten zu unseren osteuropäischen Nachbarn und so vollends dem europäischen Impetus ihrer Charta entsprochen hätten.
Kulturgut der Vertreibungsgebiete wahren ist Pflicht
Dass Politiker sich gern loben, wissen wir, Trump ist ein irrlichterndes Beispiel. In Deutschland erwartet man allerdings, dass Selbstlob nicht den Gesetzen widerspricht und auch nicht dem Jahrzehnte langen Gesetzes-Vollzug. Im Bundesvertriebenen- und Flüchtlingsgesetz gibt einen Kulturparagrafen. Dieser Paragraf 96 BVFG heißt: „Bund und Länder haben entsprechend ihrer durch das Grundgesetz gegebenen Zuständigkeit das Kulturgut der Vertreibungsgebiete in dem Bewusstsein der Vertriebenen und Flüchtlinge, des gesamten deutschen Volkes und des Auslandes zu erhalten, Archive, Museen und Bibliotheken zu sichern, zu ergänzen und auszuwerten sowie Einrichtungen des Kunstschaffens und der Ausbildung sicherzustellen und zu fördern. Sie haben Wissenschaft und Forschung bei der Erfüllung der Aufgaben, die sich aus der Vertreibung und der Eingliederung der Vertriebenen und Flüchtlinge ergeben, sowie die Weiterentwicklung der Kulturleistungen der Vertriebenen und Flüchtlinge zu fördern. Die Bundesregierung berichtet jährlich dem Bundestag über das von ihr Veranlasste.“
Es ist also von den Gebieten (gemeint sind die ehemaligen Reichs- und Siedlungsgebiete der Deutschen) die Rede, nicht von „den Vertriebenen und Flüchtlingen“. Und der Gesetzesauftrag richtet sich an das Kulturbewusstsein des deutschen Volkes, eben diese Gebiete als Geschichts- und Kulturraum wissenschaftlich und medial zu erhalten, sowie an das Ausland, also an Polen, Russland, Tschechien, Ungarn, Rumänien, um nur einige zu nennen. Damit ist ein europäischer Horizont geöffnet, der zur Zusammenarbeit und Austausch einlädt. Und dies geschieht seit Jahren mit Erfolg, vor allem seitdem sich insbesondere in Polen, Tschechien und Rumänien die Herzen geöffnet haben, sind zahlreiche bundesgeförderte Institutionen entstanden, Institute an Universitäten, Museen und Forschungsvorhaben, die genau diesem Gesetz entsprechen. Die ab 1998 SPD-geführte Bundesregierung hat durch das Team Naumann und Nevermann in BKM zwar einiges zerschlagen an Institutionen aus politischem Kalkül, hielt man doch die Paragraph-96- BVFG-gestützten Einrichtungen für die fünfte Kolonne von CSU und CDU, verstetigte aber die europäische Intention dieser Maßnahmen. Europäisch war es nämlich schon vorher!
Wie anders ist die vom Bundesinnenministerium bis zum Jahr 2000 geförderte Künstlergilde aus Esslingen zu verstehen, der es 1996 gelang, auf der Prager Burg in Anwesenheit von Präsident Vaclav Havel den BMI-dotierten Gryphius-Preis dem damaligen tschechischen Botschafter Jiri Grusa, Dichter in Deutsch und Tschechisch, zu verleihen mit der Festansprache von Bundespräsident a.D. Richard v. Weizsäcker? Diese Aktion hat die Herzen geöffnet und das deutsch-tschechische Verhältnis erwärmt. Und Grusa erzählte in seinen Dankesworten, dass er als Charta-77-Mann aus der damaligen Tschechoslowakei ausgewiesen wurde – in Bonn, wo er 1981 nach einem USA-Stipendium Zwischenstation machte, doch blieb und dann deutscher Staatsbürger wurde und so Bürger der Bundesrepublik, als Weizsäcker seine so warmherzige und geschichtsgenaue Rede am 8. Mai 1985 hielt und schloss den berührenden Satz an: „Damals war ich stolz auf meinen ersten Bürger“. Ein Dichter in doppelter Sprachbürgerschaft, ein Botschafter Tschechiens, sagte das in Prag. Ohne Paragraf 96 BVFG, ohne den Mut des zuständigen BMI-Beamten und eines guten literarischen Übersetzers aus dem Tschechischen wie Franz Peter Künzel, der damalige Vorsitzende der Künstlergilde, wäre das alles nicht gelungen. Und wer weiß noch, dass der Dichter-Präsident Vaclav Havel über die 3,5 Millionen vertriebenen Sudetendeutschen sagte, dass dieses Unheil „Hitlers später Sieg über uns“ gewesen sei? So äußern sich nur Weltbürger.
Dichtung verbindet, das wissen Tschechen wie Deutsche und sie ist immer europäisch. Gryphius ist eben kein Vertriebenen-Dichter der Landsmannschaften, sondern war für viele Tschechen in Zeiten des Kommunismus seelischer Anker, Grusa betonte das mit Hinweis auf Gedichtsammlungen in seiner Heimat, die diesen Barock-Dichter aus dem schlesischen Glogau in beiden Sprachen vorstellten.
Arbeit von Jahrzehnten infrage gestellt
Und was sagte Kanzler Friedrich Merz in Stuttgart? Es sei froh, dass er durch seine Organisationsverfügung die Zuständigkeit für die Heimatvertriebenen, Aussiedler und Spätaussiedler aus dem Bundeskanzleramt herausgeholt und dem Bundesinnenministerium, das auch Heimat-Ministerium sei, angegliedert habe.
Das muss erstaunen, denn das Kriegsfolgenrecht, zu dem sich das BVFG in erster Linie äußert mit einigen Nebengesetzen (so das Lastenausgleichsgesetz), war gar nicht Arbeitsgebiet der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) seit 1998, dies ist immer schon Aufgabe des Innenressorts. Lediglich zwei Referate befassten sich bei BKM mit der Kultur und Geschichte in den Herkunftsgebieten der Vertriebenen in Wissenschaft, Museen und Medien in einem professionell geführten Ensemble von Institutionen, die ihre Arbeit im vom gemeinsam getragenen Deutschen Kulturforum östliches Eu-ropa (DKF) in Potsdam miteinander abstimmten. Hinzu kommt das überaus gewichtige und international anerkannte Herder-In-stitut in Marburg als Serviceeinrichtung für die historische Ostmitteleuropa-Forschung mit seinen riesigen Sammlungsbeständen.
Im Einzelnen gliedern sich die Bundesförderungen in folgende Bereiche:
Forschungseinrichtungen und Bibliotheken:
• Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung – Institut der Leibniz-Gemeinschaft, Marburg
• Institut für Kultur und Geschichte der Deutschen in Nordosteuropa e. V., Lüneburg
• Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas e. V., München
• Martin-Opitz-Bibliothek, Herne
Einrichtungen der Kulturvermittlung:
• Deutsches Kulturforum östliches Europa e. V., Potsdam
• Adalbert Stifter Verein, München
Museen:
• Donauschwäbisches Zentralmuseum, Ulm
• Ostpreußisches Landesmuseum, Lüneburg
• Pommersches Landesmuseum, Greifswald
• Schlesisches Museum zu Görlitz
• Siebenbürgisches Museum, Gundelsheim
• Kunstforum Ostdeutsche Galerie, Regensburg
• Westpreußisches Landesmuseum, Münster (heute Warendorf)
• Dokumentations- und Informationszentrum für schlesische Landeskunde im Haus Schlesien, Königswinter
• Kulturzentrum Ostpreußen, Ellingen
• Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte, Detmold
• Oberschlesisches Landesmuseum, Ratingen
Alle diese Einrichtungen sind wissenschaftlich vernetzt, national und international und stets sind Vertreter der Landsmannschaften eingebunden, entweder durch das System der von diesen entsandten Kulturreferenten oder durch Mitwirkung in den Vorständen der Institutionen. Im Hinblick auf die nun bald nicht mehr lebende Erlebnisgeneration der Vertriebenen und Flüchtigen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten war und ist die Verschränkung und Kooperation mit der Wissenschafts- und Museenlandschaft in der Bundesrepublik und im Ausland ein Gebot der politischen Vernunft und entspricht auch der Ratio des BVFG.
Dies alles nun zurückzudrehen und dem BMI als Heimatministerium anzugliedern, macht ratlos. Die Arbeit von Jahrzehnten wird in Frage gestellt. Gerade erst haben sich diese Institutionen vom Hautgout der „Vertriebenenkultur“ emanzipiert und machen in vielen Bereichen zusammen mit den Bundesländern sehr anerkannte Arbeit. Wie kommt Herr Merz nun dazu, das alles zurückzudrehen? Er meint wohl – entgegen des Wortlauts von Paragraf 96 VFG – diese Bundesförderung sei personale Förderung von Heimatvertriebenen, Aussiedlern und Spätaussiedlern.
Sieht er denn nicht, dass er damit Millionen an Staatsbürgern, die Gott sei Dank nicht die Heimat verloren, die Kultur und Geschichte der vielen Kultur- und Siedlungsregionen der Deutschen im östlichen Europa fremd macht, als ob diese kulturgeschichtlich nur wenige beträfen? Sind Schopenhauer, Kant, Gryphius, Opitz, die jüdischen Dichter der Bukowina wie Rose Ausländer, Paul Celan und Moses Rosenzweig nicht Teil der deutschen Geistes- und Literaturgeschichte, sondern Repräsentanten der sog. Vertriebenenkultur? Wird das dem politischen Horizont und dem Selbstverständnis Deutschlands als „europäische Kulturnation“ (Paragraf 4, Deutsche-Welle-Gesetz) gerecht?
Östliches Europa ungehobener Schatz
Und was will der Kanzler im Oktober dem diesjährigen Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels in der Frankfurter Paulskirche sagen, nämlich Karl Schlögel, der nicht nur durch sein Buch „Die Mitte liegt ostwärts“ (München, 2002) deutlich gemacht hat, dass uns das östliche Europa kulturgeschichtlich mehr nur etwas angeht, ja, dass es ein ungehobenes Pompeji ist, ein Schatz, der das Zusammenleben mit unseren östlichen Nachbarn erleuchten und emotional bereichern kann, der uns vor Augen führt: Flucht und Vertreibung von 15 Millionen Deutschen ist nicht das Ende der Geschichte, nicht die Auslöschung von Erinnerungen, denn die Kultur eines Staat bemisst sich an der Souveränität des Gedächtnisses als Volk und Nation, ohne Auslassung und Beschönigung. Und wir wissen: Auschwitz liegt im östlichen Europa und doch auf der Gedächtnishaut eines jeden Deutschen.
Wir brauchen die Kulturwissenschaften in einem Gesamtkonzept und so eine mit den Ländern verbundene Kulturförderung. Eine Bilanz und sodann eine Konzeption der Kulturfördermaßnahmen des Bundes liegen immer noch nicht vor, die Ressorts fördern so vor sich hin und das eine weiß nichts vom anderen. Wann nehmen sich der Bundestag und auch der Bundesrechnungshof dieser Fragen an, nämlich: Was macht der Bund mit Macht aufgrund welcher rechtlichen Kompetenzen? Wie weit reicht das Gedächtnis der Bundesrepublik Deutschland?