Der banatische Blick

Die deutsche Seele: der Dichter Richard Wagner, 1952-2023

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Wer im Ausland lebt, schaut anders auf Deutschland. Max Herrmann-Neiße (geboren 1886 in der schlesischen Stadt Neisse) wurde ins Exil getrieben von den deutschen Nationalisten, ging nach London und beschwor die alte Heimat mit immer noch anrührenden Gedichten wie „Ein deutscher Dichter bin ich einst gewesen“. 1941 verstarb er fern der Heimat, dem Klang der Heimatsprache entzogen. Thomas Mann und dessen Bruder Heinrich ging es nicht anders, ebenso Else Lasker-Schüler, Lion Feuchtwanger, Erich Maria Remarque, Bertold Brecht oder Stefan Zweig.

Bei den sog. Auslandsdeutschen, die durch Artikel 116 Grundgesetz besonders privilegiert sind, ging, ja geht bis auf den heutigen Tag der Blick nach Deutschland, ins Mutterland der deutschen Sprache, aber eigentlich in drei Länder, nämlich neben Deutschland auch nach Österreich und in die Schweiz. Wenn nach der Geburt eines Kindes in Rumänien, wo einst ca. 800.000 Deutsche als Banater Schwaben oder Siebenbürger Sachsen, in Sathmar oder in der Bukowina als Minderheit der Volksdeutschen und zugleich als rumänische Staatsbürger lebten, die Taufe anstand, war die Namensgebung nicht nur eine familiäre Angelegenheit, sondern auch eine selbstbewusste, ja politische Geste. Wer Wagner hieß und seinen Sohn auf den Namen Richard bei Standesamt und Kirche eintragen ließ, wollte sagen: Hier ist er und gehört zu einem großen Kulturverbund; unser Richard ist kein Komponist, aber soll ihm auch nicht fern sein.

 Am 10. April 1952 kam Richard Wagner in Lovrin in der damaligen Volksrepublik Rumänien zur Welt und am 14. März 2023 ist er in Berlin verstorben, friedlich eingeschlafen. Aber sein Leben als Schriftsteller, Publizist und Essayist war alles andere als friedlich. Dennoch gingen Wärme, Weltzugeneigtheit und Milde von ihm aus, nichts Eiferndes, trotz aller Entschiedenheit und Präzision in Sprache und Argument. Er war bis auf das Drama in allen Facetten der Literatur unterwegs, zahlreiche Romane, Erzählungen, historische Essays und immer wieder Gedichte: ein gewaltiges Werk, durch das die Fragen nach kollektiver, ja nationaler Identität hindurchschimmerten. Er traute sich etwas, obwohl schon diese Formel sagt, dass man mit mentaler Reserviertheit hinschaut zu einem Feld, das doch immer die Deutschen beschäftigt, das sie bestellt haben und nie zu einem Schluss kamen. Warum auch. DieSuche von Standort und Selbstverständigung ist immer porös, nie ganz abgeschlossen, ja, es bleibt ein ständiges Unterwegssein.

Im Jahre 2011 legte er mit Thea Dorn die grandiose Sammlung von Essays, von Feuilletons vor, wo beide im Vorwort u. a. schrieben: „Luft ist uninteressant, solange sie selbstverständlich ist. Erst wenn sie dünn wird, beginnst du, sie zu spüren. Erst wenn du sie zu vermissen beginnst, spürst du, dass da etwas ist, das du nicht verlieren willst. Wir machen uns keine Sorgen, dass Deutschland sich abschafft. Wir sehen nur, dass es sich herunterwirtschaftet. Sein Gedächtnis verliert. Die einen haben die deutsche Scham, die keiner ablegen kann, der diesem Land entstammt, zum Schuldpanzer verhärtet, hinter dem sie sich verschanzen. Die Verbrechen des Nationalsozialismus sind ihnen weniger Schmach und Schmerz als Beweis, dass alles Deutsche mit der Wurzel ausgerissen gehört. Die anderen tummeln sich in dem Kahlschlag, den die wohlmeinenden Nashörner angerichtet haben. Ihnen fehlt nichts, solange der Fernseher läuft und im Kühlschrank genügend Bier steht. Und dennoch spüren wir ein wachsendes Deutschlandsehnen.“ So führen sie ein in das Buch „Die deutsche Seele“. 64 Tiefenbohrungen in die inneren Gefilde des wenig umfriedeten Begriffes „deutsch“, von Abendrot, Abendstille, Abgrund und Arbeitswut zu Doktor Faustus, Feierabend, Fußball, Gemütlichkeit, nach German Angst, Kleinstaaterei, Kulturnation, Musik, Ordnungsliebe und Pfarrhaus, Reformation, Reinheitsgebot, Spießbürger, Vater Rhein bis zu Vereinsmeierei, Waldeinsamkeit, Wiedergutmachung und dann zum wohl sehr deutschen Wort der Zerrissenheit. Man liest das alles mit Erstaunen und meist mit Zustimmung, Thea Dorn und Richard Wagner unternehmen profunde Tauchgänge, historisch und kulturgeschichtlich erhellend und immer auf der Suche nach den Dingen zwischen den Befunden, eben nach dem, was unsere Mentalität ausmacht oder begründen kann. Eindeutige Auskünfte kann der Leser nicht erwarten, er muss sich selbst mitbringen mit seinen Empfindungen, Kenntnissen und Erfahrungen. So entstehen ein Kaleidoskop und so eine Gesprächsgrundlage. Aber wer wollte sich vor 12 Jahren darauf einlassen, wer heute, wo Talkrunden alles erwägen, aber nicht nach dem fragen, was unter dem Begriff Staatsvolk liegt und auf dem der moderne Verfassungsstaat von 1949 und erst recht seit am 3. Oktober 1990 aufsetzt. Die mediale Öffentlichkeit hat Wagner gleich ins Bemühte, Bizarre und na ja, auch ins Tümelnde verwiesen. Wie kleingläubig, konnte man sagen und wie intellektuell beschränkt. Viele wollten vor 33 Jahren die Deutsche Einheit nicht, auch nicht die soeben verstorbene Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages Antje Vollmer, auch nicht ihre Kollegin im Vize-Amt Claudia Roth („Nie wieder Deutschland“ sagte sie 1991 auf den Straßen und Plätzen), und nun Staatsministerin beim Bundeskanzler, auch nicht der letzte DDR-Außenminister Markus Meckel, nicht der Wahlhelfer von Willy Brandt Günter Grass. Von der „Lebenslüge der Wiedervereinigung“ wurde auf SPD-Parteitagen noch 1989 geredet. Das alles wirkt nach, bis heute in Medien und Politik, wo nun der Angriff der Russen auf die Ukraine zu Antworten zwingt, Antworten zur Frage, was würden und wollen wir vereidigen und warum. Aus dem ukrainischen Überlebenskampf werden uns Argumente auf TV- und Laptopbildschirme geschickt. Und wer sind „Wir“? Das sind keine weichen Fragen. Antworten dürfen nicht weiter den Identitätshubern von den Rändern des politischen Spektrums überlassen bleiben.

Thea Dorn hat 2018 mit dem „Leitfaden für aufgeklärte Patrioten“ mit dem sprechenden Titel „deutsch, nicht dumpf“ noch mal einen Aufschlag gemacht und – erstaunlich – wurde vom damaligen Außenminister Sigmar Gabriel im „Spiegel“ hochgelobt, ein Instinktpolitiker wie Horst Seehofer, der sogar den Begriff „Heimat“ dem Bundesinnenministerium anfügte. Und dort blieb es bis heute, aber wegbürokratisiert.

Schon 2006 hatte Richard Wagner das sprachlich elegante und geschichtlich profunde Buch „Der deutsche Horizont. Vom Schicksal eines guten Landes“ publiziert, zu dem Elke Heidenreich bemerkte: „Ein Autor, den sie unbedingt entdecken sollten.“ Wagner war geschichtlich kundig, aber er schreibt nicht als Historiker, sondern als Autor, als Geschichtenerzähler und im Kern immer als Lyriker, als Dichter, der die Worte ablauscht und sie behände setzt. In einer öffentlichen Veranstaltung mit Ines Geipel in Rösrath wurde im März die Frage diskutiert, wie man Deutschland erklären könne ohne das Ost-West-Schema. Von außen gehe es besser oder wenn man den Neubürgern, den sog. Migranten, unser Land erklären wolle. Richard Wagner kam von außen, aus Rumänien, 1987 war das: „Hinter dem rumänischen Alltag baute sich die deutsche Geschichte auf.  Aus der Muttersprache und ihren krummen Liedern: In einem kühlen Grunde. Wir waren Deutsche, Banater Schwaben, wir hatten den Krieg verloren. Die Brüder meiner Mutter hatten den Krieg verloren, der eine in der Wehrmacht, der andere in der Waffen-SS. Sie waren im Westen geblieben. Alle, die konnten, waren im Westen geblieben. Wir waren in Rumänien und waren Deutsche, aber was war Deutschland für uns? Das Mutterland, wie die Älteren sagten?“ Vom „Mutterland Wort“ dichtete Rose Ausländer, die 1901 in der Bukowina geboren wurde und 1988 in Düsseldorf starb, eine Einsicht, welche sich mit den sprachlichen Exkursionen von Richard Wagner verbindet.  Und so ist das Deutschland-Suchen eine unentwegte Sehnsucht nach dem Wort, das Heimat gibt, ein Suchen von Richard Wagner, das sich an das Heimkommen-wollen des romantischen Dichters Novalis („Wohin wollen wir? Immer nach Hause.“) anlehnt. Wagner, der Spätaussiedler, machte sich schnell kundig über die Adenauer- und 68-Zeit, nannte Sachverhalte und Personen aus den K-Gruppen und Friedensbewegung und stellte fest: „In den Urzeiten des Kalten Krieges bekämpfte man die NS-Gefahr posthum und nicht den höchst lebendigen Kommunismus. Auch die so erfolgreiche spätere Friedensbewegung hat ihre Wurzeln im nachgeholten Antifaschismus“:

 „Freiheit und Frieden“ seien als „Menschheitshoffnung“ (Robert Havemann) auseinandergefallen, die DDR habe sich „den Frieden“ genommen, die BRD „die Freiheit“.

Nachzulesen, wie er über Menschen in der damaligen DDR schreibt, das „Land zwischen Deutschland und Osteuropa“, ist erhellend und schließt in vielem an, was Ines Geipel über den deutschen Real-Sozialismus in Romanen und Sachbüchern ausgebreitet hat. DDR und Volksrepublik Rumänien waren „Bruderländer“ und es gab ein inneres Kanalsystem der Menschen, das verband, besonders Autoren, und so nahm Wagner die Bücher von Uwe Johnson wahr, das Interesse blieb und so stieß er auf  Johnson-Essays, besonders sprach ihn der Artikel „Versuch eine Mentalität zu erklären. Über eine Art DDR-Bürger in der Bundesrepublik Deutschland“ (im Buch „Berliner Sachen“) an. Was Johnson 1970 erkannt habe an DDR-Bewusstseinsbildung halte nach Wagner an, bis heute, und setze sich in Ostalgie und in der Idee vom besseren deutschen Staat fort. Das sind Erkenntnisse, die sich so auch bei Hubertus Knabe („Der diskrete Charme der DDR. Stasi und Westmedien Berlin 2001) Marko Martin, Freya Klier und Karl Corino finden. Wagner verfügte über eine erstaunliche Belesenheit, Sachkenntnis und analytisches Vermögen, das nicht nur in dem von Elke Heidenreich geschätzten 400-Seiten starken Großessay („Der deutsche Horizont“ von 2006) zum Ausdruck kommt, sondern im 2014 erschienenen Buch „Habsburg“, mit dem er den Leser durch die Seelenlandschaft des südöstlichen Mitteleuropas führt. Bis 1918 gehörten das Banat, das unmittelbar an Ungarn anschließt, wie Siebenbürgen im südöstlichen Karpartenraum zur Habsburger Monarchie, zu Ka-Kanien, zu Österreich-Ungarn. Ein Autor wie Richard Wagner, ein Banater Schwabe, der in der Nähe von Temeswar (zur Zeit „Kulturhauptstadt Europas“) aufgewachsen ist, nimmt den kulturhistorischen Sound des Habsbur-gischen mit seiner Grazie und Wehmut liebevoll auf und spinnt Texte zusammen in einer Folge inspirierter Feuilletons, die zwischen Konditorei, Donau, Kafka, Freud und Wittgenstein hin- und herschwimmen: Ein Lesegenuss, getragen vom Grundinteresse Wagners, der Suche nach Halt und Identität, die sich mit dem Stimmen-Orchester Rumäniens, Kroatiens, Ungarns und der Böhmischen Länder sowie Wiens mit Österreich verwebt. Wie in seinem Essay „Der leere Himmel“ sowie in zahlreichen Romanen wie „Miss Bukarest“ und „Habseligkeiten“ bleibt er auch im Habsburg-Buch bei sich, erzählt faktenreich mit der detailgenauen Sonde von sich und somit von uns, der wir durchs alte Europa reisen wollen, um den Grundton E zu finden. Bei Wagner ist es eher der Kammerton. Er versteigt sich nicht in Pathos oder großer Evokation, denn im Kern ist er, war er Lyriker, ja Dichter, ein deutscher Dichter aus Rumänien, der von Deutschland und dessen Kammerton D und so auch von Haydens Kaiser-Quartett, das uns das Deutschlandradio zum Sendeschluss ins Ohr spielt, nicht lassen konnte.

Wer auf das weit gespannte Werk von Richard Wagner blickt und auch seine Prosa genau liest, wird merken, dass er der Lyrik nahe ist, dass er sich vielleicht sogar in erster Linie als Lyriker sah. Zwölf Gedichtbände liegen vor. Wer die Autorinnen und Autoren deutscher Sprache, die aus Rumänien in die deutsche Literatur gekommen sind, näher in den Blick nimmt, wird feststellen, wie reich und relevant die Lyrik aus Siebenbürgen und dem Banat ist. Rumänien-deutsch, das ist ein alter Nazi-Begriff, den die meisten ablehnten, so Rolf Bossert, Horst Samson, Anemone Latzina, Werner Söllner oder Franz Hodjak, Namen, die für viele stehen, auch für Herta Müller, 2009 mit dem Nobel-Preis nobilitiert. Mit ihr war Wagner 1987 in die Bundesrepublik gekommen, seine Ehefrau damals, dann trennten sich die Wege, auch literarisch, sie die Welt-Poetessa, gelähmt durch die Erfahrungen im Sercuritate-Staat Ceaușescus, er literarisch und politisch weiter ausgreifend, wenn auch manche Medien ihm nicht folgen wollten, nicht selten gelähmt von westdeutscher, oft stasi-gelenkter Betrachtung der Verhältnisse. 

Wagner powerte sich aus, schonte sich nicht, auch nicht andere. Herta Müller bekam den Preis von der Schwedischen Akademie in erster Linie für den Roman „Atemschaukel“, den sie zunächst zusammen mit Oskar Pastior geschrieben hatte, ein vor allem im ersten Teil anrührendes Stück, eine poetisch wie historisch genaue Erzählung zur Deportation vieler Menschen aus der deutschen Volkgruppe in Rumänien nach dem Zweiten Weltkrieg ins ukrainische Donezbecken: Zwangsarbeit in den Bergwerken. Und dann kam heraus, dass Pastior gemeinsame Sache mit dem kommunistischen Geheimdienst Rumäniens gemacht hatte, wie  – leider – u. a. auch Werner Söllner (1951-2019). Wagner deckte auf, klärte auf und zog scharf. Das war 2009/10 und bezog die Landsmannschaft der Banater Schwaben ein, wo einige als Spitzel gearbeitet haben sollen. Die Pastior-Geschichte war für Herta Müller unangenehm, warf dunkle Schatten und Fragen auf nach der Reinheit ihrer Biographie im Kommunismus. Wagner forderte die Auflösung der Berliner Oskar-Pastior-Stiftung, in der bis heute auch Herta Müller mitwirkt, u. a. zusammen mit Ernest Wichner und der ehemaligen Kulturstaatsministerin Christina Weiss. Dazu kam es nicht. 

Richard Wagner bekam in Rumänien vier und in Deutschland zehn literarische Auszeichnungen, aber wirklich bedeutende, wie den Büchner-Preis oder den Peter-Huchel-Preis nicht. Beide hätte er mehr als verdient gehabt. Aber er wurde übersehen und ausgegrenzt. Er blieb tief im Bergwerk seiner Texte und wurde auch durch Krebs und Parkinson immer einsamer, seine Geliebte war die Sprache, seine Rede stets weich und kräftig, sich seiner selbst gewiss und dabei von einem Stolz und einer Noblesse, die erstaunte. Das Buch „Herr Parkinson“ von 2015 spottet geradezu über sein Gegenüber, den Meister der Krankheit, den Meister Tod. Zu so etwas ist nur ein souveräner Autor imstande.

Sommer

Die Nacht kommt
und die Türen schweigen

Alles ohne Hand und Fuß

Die Schritte aber
die im Haus horchen
finden keinen Frieden

Ein Gedicht aus dem Sammelband „Gold“ von 2017. Richard Wagner hat uns Texte hinterlassen, die auf uns warten, auf alle, die in und mit der Sprache unterwegs sind, um sich zu finden und die wissen, wir kommen nicht an.

Plötzlich ist die Wolke
Ein schwarzer Pfeil
Den jemand in den Baum jagt

Der Baum fliegt
Wir fliegen mit
Und kommen doch nicht
Von der Stelle