Wohl jedem kunstgeschichtlich interessierten Menschen ist der Isenheimer Altar von Matthias Grünewald ein Begriff. Geschaffen wurde er von 1512 bis 1516. Heute ist er im Museum Unterlinden in Colmar ausgestellt, das zu den am meisten besuchten Museen Frankreichs gehört.
Wie der Isenheimer Altar entstanden ist
Die frühere Bedeutung des Altars für reuige Büßer hat sich in der Neuzeit auf kunsthistorisch und ästhetisch Interessierte verlagert. Dabei hatte Matthias Grünewald vor über 500 Jahren sein Werk weder speziell für Büßer noch für Ästheten geschaffen, denn in Auftrag gegeben haben den Altar die Mönche des Antoniterklosters, eines Bettelordens in Isenheim. Im Mutterhaus in Saint Antoine l’Abbaye hatten sich vor den Reliquien des heiligen Antonius des Großen zahlreiche Wunderheilungen ereignet, und so hatte 1095 Gaston de Valloire aus Dankbarkeit für die Genesung seines Sohnes vom Antoniusfeuer die Laienbruderschaft ins Leben gerufen.
Der Spitalorden der Antoniter hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die am „heiligen Feuer“ oder „Antoniusfeuer“ Erkrankten zu betreuen. Niemand wusste damals, was es mit dieser unheilbaren Krankheit auf sich hatte: Der ganze Körper brannte wie Feuer, die Gliedmaßen wurden schwarz und fielen nach einem geschwürigen Gewebezerfall ab. In ganz Europa trat die Krankheit fast epidemisch und oft auch wetterabhängig auf und raffte ganze Gegenden dahin. Erst 1653 konnte der Leibarzt König Ludwigs XIV. nachweisen, dass es sich beim Antoniusfeuer nicht um eine ansteckende Krankheit handelte, sondern dass ein durch einen Pilz in den Roggenähren wachsendes schwarzes Korn, das hochgiftige Mutterkorn, die Ursache für diese schreckliche Krankheit war. So erklärte sich auch das regionale Auftreten des heiligen Feuers, da die Menschen in einer Gegend ja nur das aus dem gleichen Roggenmehl hergestellte Brot zu essen hatten.
Eines von den zahlreichen, in ganz Europa verbreiteten Antoniterklöstern entstand in Isenheim, das auf dem Pilgerweg von Mainz nach Santiago, Rom und Einsiedeln liegt. Domherr Guido Guersi gab 1512 Matthias Grünewald den Auftrag, für die Schwerstkranken im Kloster der Antoniter diese Altarbilder zu malen. So kam es zu diesem geradezu schockierend expressiv gemalten Bild des gekreuzigten Jesus: Thema ist nicht die Sündenstrafe, sondern das Leiden Christi, mit dem sich auch die Kranken identifizieren konnten. Sie fühlten: Ich bin nicht allein mit meinen Schmerzen – sie spürten diesen Trost, der sich noch intensivierte, wenn der Flügelaltar aufgeklappt und das ebenso ausdrucksstarke Bild des Auferstandenen zu sehen war, der ihnen die Erlösung verhieß. Im Chorraum der Kirche, durch den Lettner vom Langhaus abgesperrt, war der Altar nur den Kranken und den Mönchen zugänglich. Auch diese hatten jedenfalls – Tag für Tag mit den Schmerzen der leidenden Menschen konfrontiert – ebenso Stärkung, Trost und Hoffnung nötig. Die Pilger, die von diesem Altar nur mehr oder weniger vom Hörensagen erfahren hatten, mussten im Kirchenraum davor ihre Gebete verrichten, wohl auch, um sich vor der vermeintlichen Ansteckungsgefahr zu schützen.
Ein grandioses Kunstwerk
Der Flügelaltar oder Wandelaltar besteht aus elf Tafeln, und die Malerei nimmt insgesamt 37 Quadratmeter ein. Geschlossen zeigt der Altar im Mittelfeld die Kreuzigung Christi, am linken Seitenflügel den heiligen Sebastian und am rechten den heiligen Antonius, den Schutzpatron der Antoniter und Schutzheiligen gegen Seuchen. Im Unterbau ist die Grablegung Christi zu sehen. Mittelpunkt des großen Altarblattes ist der übergroß gemalte gekreuzigte Christus. Kreuzesstamm und Christus sind leicht nach rechts versetzt, damit die Teilung der Tafeln nicht Gesicht und Körper durchschneidet. Auf der linken Seite befinden sich zwei Frauen: Maria, totenblass, die den Verlust ihres Sohnes in leiderstarrter Ohnmacht erträgt und von Johannes, dem Lieblingsjünger Jesu, gestützt wird, und Maria Magdalena, mit schmerzverzerrtem Gesicht und händeringend vor Verzweiflung. Auf der rechten Seite ist Johannes der Täufer abgebildet, der anachronistisch unter dem Kreuz Christi steht, da er schon einige Jahre vor Jesu Tod enthauptet worden war. Er hat sich vom Anfang seines Daseins an als der Wegbereiter des Herrn verstanden, und als solcher weist er mit dem überbetont langen Zeigefinger seiner rechten Hand auf den Gekreuzigten. Die lateinische Inschrift auf dem Hintergrund lautet: „Jener muss wachsen, ich aber muss kleiner werden.“ Neben der expressiven Dramatik der ganzen Szene fallen insbesondere die Hände auf. Sie sind bei allen Beteiligten so ausdrucksstark gemalt, dass allein daran die Gemütsverfassung der dargestellten Menschen abgelesen werden kann – wie es überhaupt bei Kunstwerken immer wieder zu beobachten ist, dass speziell die Qualität der gemalten Hände viel über die Qualität des Malers aussagt.
Wurde der Altar geöffnet, war vom Betrachter aus gesehen auf dem linken Außenflügel Maria Verkündigung, in der Mitte das Engelskonzert und Christi Geburt und am rechten Außenflügel die Auferstehung Christi zu sehen: Ein gewaltiger Aufwind reißt Jesus himmelwärts und die Wachleute zu Boden. Werden auch die mittleren Innenflügel aufgemacht, so öffnet sich der Altarschrein mit den geschnitzten Figuren des heiligen Antonius, links und rechts flankiert von Augustinus und Hieronymus. An den Außenflügeln sind der Besuch des heiligen Antonius bei Paulus von Theben und die Versuchung des Eremiten Antonius gemalt. Der ebenfalls geöffnete Unterbau zeigt nun Jesus im Kreis seiner Apostel. Dieses dritte Schaubild wird nur am 17. Januar, dem Fest des heiligen Antonius, freigegeben. Die Schnitzereien werden Niklaus von Hagenau aus Straßburg zugeschrieben. Um den Besuchern die Betrachtung der elf Tafeln zu ermöglichen, wurden sie nicht in der originalen Reihenfolge, sondern so angeordnet, dass alle Teile gleichzeitig sichtbar sind.
Ein großer Maler in ehrwürdigen Mauern
Über das Leben von Matthias Grünewald liegt vieles im Dunkeln, er ist biografisch nicht fassbar. Sein Name war in verschiedenen Schreibweisen ursprünglich Mathis Gothart Nithart, er wurde vermutlich zwischen 1475 und 1480 in Würzburg geboren. Wo er seine Werkstatt hatte, ist unbekannt, gestorben ist er vermutlich 1530 in Halle an der Saale. Von seinen Werken sind unter anderem „Die Kleine Kreuzigung“, „Die Verspottung Christi“ und Anteile des Heller Altars im Besitz verschiedener Museen. Sein Hauptwerk aber ist der Isenheimer Altar.
Dieser Altar weckte bald die – vergebliche – Begehrlichkeit verschiedener deutscher Fürsten, er wurde mehrmals auseinandergenommen und an verschiedenen Orten wieder aufgebaut. 1852 kam er ins Museum Unterlinden in Colmar und nach einigen Zwischenstationen 1945 neuerlich dahin. Während des Museumsumbaus war er in der Dominikanerkirche untergebracht.
Seit 1794 erlebte der Altar acht Restaurierungen, die letzte wurde im Museum Unterlinden wegen Unstimmigkeiten 2011 abgebrochen, jedoch 2018 wieder aufgenommen. Jetzt können die Restauratoren hinter Glasscheiben bei ihrer Arbeit beobachtet werden.
Das Museum Unterlinden hat ebenfalls eine bewegte Geschichte. Zwei adelige Witwen, Agnes von Mittelheim und Agnes von Hergheim, gründeten 1232 mit den Dominikanern das Kloster Unter den Linden. In den folgenden Jahrhunderten bewegte sich das Schicksal des Klosters pa-rallel zu dem von Colmar. 1845 sollte alles abgerissen werden, weil es die Krankheit Antoniusfeuer nicht mehr gab, beherzte Bürger retteten jedoch Kirche und Kreuzgang. Als man ein gallorömisches Mosaik aus Bergheim in der Kirche unterbrachte, stellte sich der Platz als so ideal heraus, dass man auch den Isenheimer Altar hinbrachte und 1853 die Gebäude als Museum eröffnete. 2012 wurde es großzügig erweitert, und jetzt befinden sich von archäologischen Fundstücken aus dem Neolithikum über Volkskunst vom 16. bis zum 19. Jh., Sammlungen aus dem Mittelalter und der Renaissance, Werke von Martin Schongauer, Caspar Isenmann, Lucas Cranach und Hans Holbein d. Ä. bis zu vielen Werken gegenwärtiger Kunst darin.
Es hat Jahrhunderte gedauert, aber jetzt scheint Grünewalds Isenheimer Altar im Museum Unterlinden seine erlöste Ruhe gefunden zu haben… und nach dem glücklichen Erlöschen des Antoniusfeuers können sich nun die Besucher sorglos dem heiligen Feuer der Kunstbegeisterung hingeben.