Jeder Staat will Macht, sie beanspruchen und erhalten. Die einzig legitime Quelle, aus der sich Macht speisen kann, ist das Volk. So schreibt ja auch das deutsche Grundgesetz in Artikel 20 Abs.2: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“. Das ist die Seelenachse des demokratischen Rechtsstaates. Alles Recht, das Parlamente als frei und geheim gewählte Volksvertreter setzen und von Regierungen umgesetzt, also exekutiert wird, muss auf einer ununterbrochenen Legitimationskette beruhen, nichts darf den demokratischen Legitimationsprozess stören oder gar unterbrechen. Der Demos, das Volk, setzt das Recht und herrscht so.
Das ist die reine Lehre der Demokratie und nur diese kann die freie Entfaltung der Persönlichkeiten, die Freiheit und Würde des Individuums schützen. Und jeder und jede kann sich gegen den unberechtigten Zugriff des Staates zur Wehr setzen (Artikel 5 GG), der seine Macht zudem jederzeit durch Wahlen, also durch politische Willensbildung, wieder verlieren kann. All das wollen Diktaturen nicht. Sie setzen auf das Oligarchen-Machtmonopol, das sie sakral verbrämen mit Begriffen wie Nation, Sozialismus, Kommunismus, Nation und Geschichte, denen Assistenztermini wie heilig, moralisch-überlegen und existentiell zur Seite gestellt werden. Treue, Tapferkeit und Hingabe (bis zum Tod) kommen hinzu. Wie in Putins Reich legen Diktaturen Wert auf politischen Konsens, Akzeptanz oder zumindest einverständliche Duldung der Bevölkerungen. Sie versuchen es entweder durch staatliche Inszenierungen, Korruption, Käuflichmachung oder durch Bedrohung und Zwang. Das Meinungsbild in den staatlich geführten Gesellschaften wird permanent beobachtet, wer sich widersetzt oder gar schweigt, ist gefährlich. Wer der Sprache mächtig ist wie es Dichter sind, muss auf Kurs gebracht oder bekämpft werden.
Am besten, solche Menschen werden „umgedreht“. Reiner Kunze stellte sich gegen die Diktatur der SED-DDR, gesteuert von 91.015 hauptamtlichen und 170.000 informellen Stasi-Mitarbeitern (m/w) bei etwa 17 Millionen DDR-Bürgern. 2,3 Millionen waren SED-Mitglieder und so gleichgeschaltet oder zumindest politisch angepasst. 400 Menschen wurden entführt von Stasi-Agenten. Und die Zahl der Lebensmüden wuchs: pro Jahr legten 6000 Hand an sich und gingen aus den Verhältnissen. 300.000 flohen von 1961 bis 1989, über 30.000 Menschen schafften es nicht rüber und blieben in den Fängen der „Staatsorgane“ und in 55.000 Selbstschutzanlagen des sogenannten antifaschistischen Schutzwalles hängen. In 112 Kilometern Akten liegen Einzelschicksale der deutschen Nachkriegsdiktatur begraben, Wirklichkeiten, denen sich mutige Menschen wie Ines Geipel zuwenden und deshalb von alten Seilschaften bekämpft werden.
„Herr Kunze, dann kann auch der Minister für Kultur Sie nicht mehr vor einem Unfall auf der Autobahn bewahren. Nun werden andere das Heft in die Hand nehmen.“
Eine klare Morddrohung. Und nicht von einem subalternen Stasi-Mann, sondern von Hans-Joachim Hoffmann am 10.Juli 1974, dem DDR-Kulturminister. Kunze war die Mitgliedschaft in der Bayerischen Akademie der Künste angetragen worden, dies rief den SED-Staat auf den Plan, Kunze wurde nach Berlin (Ost) gerufen, um ihn dazu zubringen die Wahl nicht anzunehmen: Wohnung, Wochenendgrundstück am See, West-Auto etc. wurden in Aussicht gestellt, bis dann die Klappe fiel: Wir lassen Sie umbringen. So handeln Diktaturen. Boris Nemzow wurde am 27.2. 2015 von Putin-Leuten in Moskau erschossen. Der russische Rechtsanwalt Alexei Navalny entging 2020 nur durch rasche Hilfe aus Berlin dem Vergiftungstod und ist nun für immer weggeschlossen im Gulag-System Russlands. Diktaturen sind zynisch und vernichten, was sich ihnen in den Weg stellt. Sie wollen verherrlicht werden als einzige Willensträger der staatlichen Macht. Dass in Russland nun durch die DUMA die „Gruppe zur Erforschung antirussischer Tätigkeiten“ (GRAD) geschaffen wurde, ist nicht überraschend, denn die Auslöschung nichtkonformer Meinungen ist Staatszweck.
In der DDR hatte die Stasi diese Funktion. Wer diesem Regime die Stirn bot, sich also nicht schonte, war ein Held, der sich am seidenen Faden der eigenen Kraft, der Solidarität der Familie und der Dichtung festhielt. Reiner Kunzes Leben ist ein deutsches Gedicht, das sich nicht im poetischen Pointilismus der Verse erschöpft, sondern im Glauben an die rettende Kraft der Humanität und der Menschenwürde, die das Unfassbare der Welt nicht zerstören kann.
Dies entschlüsselt sich in seinem umfangreichen Werk in Lyrik, Prosa, Übersetzungen/Nachdichtungen, aber auch und lichtklar in den zahlreichen Briefen. Kunze ist ein Briefschreiber wie wenige, seine kuvertieren Texte sind von sprachlicher Brillanz und erfassen die Wirklichkeiten seines Lebens genau. Werden alle Briefe mit seinen zahlreichen Korrespondenzpartnern aus Politik, Autoren- und Leserschaft gesichtet und veröffentlicht, sind wohl mehrere Bände zu erwarten. Und Kunze war und ist stets ein literarischer Verfasser, in welcher Textsorte auch immer. Wer Kunzes Lyrik schätzt, wird auf die Briefe nicht verzichten wollen. Der (Liebes-) Briefwechsel mit seiner wunderbaren Frau Elisabeth war beiden so privat und wertvoll, dass sie diesen vernichtet haben. Die Korrespondenzen mit anderen sind eine Literartur- und Geschichtsquelle ersten Ranges und sollten von der Germanistik nun rasch erschlossen werden. Kunzes Deutschland zeichnet Staat und Nation wie Heinrich Heine, leidend und emphatisch, liebend und mit Zuversicht. Nun ist nach der Ouvertüre von Kristina Stella „Der Brief als solcher würde sich geehrt fühlen“ (Hauzenberg 2018), nachdem sie in der „Neuen Rundschau“ 2017 bereits die Briefe zwischen Kunze und Brigitte Reimann in den Jahren von 1953 bis 1972 vorgestellt hatte, mit einem neuen Buch des tüchtigen Kleinverlegers Toni Pongratz ein Anfang gemacht mit den Briefen von Kunze mit Jürgen P. Wallmann.
Briefe, geschrieben in Zeiten der DDR (bis 1977, als er sich vor den Nachstellungen des Regimes im anderen Teil Deutschlands rettete und nach Bayern ging zusammen mit seiner Gefährtin und Ehefrau Elisabeth) waren ihm die Nabelschnur zur Welt. Und so heißt der Band mit den Briefen, die er mit dem 1939 in Münster geborenen Journalisten Jürgen P. Wallmann wechselte in den Jahren von 1969 bis zur erzwungenen Ausreise und „Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR“ im Jahre 1977. Allerdings ging die Korrespondenz weiter bis zu Wallmanns Tod im Jahre 2010. Es liegt also eine Auswahl vor, die der kundige Germanist Heiner M. Feldkamp zusammengestellt und in einen zeithistorischen Rahmen eingemessen hat. Man liest diese Texte, die vorzüglich mit Anmerkungen ergänzt und erläutert werden, mit einiger Anspannung und Respekt – für beide.
Ein Geschichtsdokument liegt in der Hand, das deutlich macht, dass die Briefschreiber nicht die Contenance verloren, sich der Gefahren sehr bewusst waren, aber auf die wachsende Freundschaft setzten. Und sie hielt, auch nicht getrübt durch die drei Ehen von Wallmann, die dem Westfalen vielleicht eher Verständigungsräume öffneten. Und so half Anneliese Bieber-Wallmann, die Witwe, am Entstehen dieses Bandes mit.
Die DDR-Diktatur war von Anfang ein Unrechtsstaat, was einzuräumen der politischen Linken in der SED-PDS-Nachfolge-Partei immer noch nicht gelingt, denn sie verschließt sich der Erkenntnis, dass die sog. sozialistische Gesetzlichkeit keinen demokratischen Rechtsstaat zulassen konnte, sie wollte vielmehr die Unterwerfung unter dem Machtanspruch der SED-Kader. Rechtspositivismus ist keine Kategorie, Hans Filbinger, der Wehrmachts-Marinerichter und spätere Ministerpräsident von Baden-Württemberg lag mit Blick auf die NS-Zeit von 1933 bis 1945 genauso falsch mit dem perversen Spruch „Was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein.“ Das ist die Sprache der Täter. Leider auch in der Gegenwart.
Kunze hielt dagegen, gegen die totale Durchdringung seiner Persönlichkeit mit dem sozialistischen Menschenbild. Dichten und Denken, Schreiben und Publizieren waren ihm so Selbstrettung. Das Gedicht, das Gegenüber und der Blick in die Welt hinter der Realität. Die besten Texte sind wohl jene, die in der größten Bedrängnis entstanden sind, so den Kindern zugeneigte Bücher „Der Löwe Leopold“ (Frankfurt am Main 1970), „Der Dichter und die Löwenzahnwiese“ (Berlin-Ost 1971) sowie die Gedichtbände „zimmerlautstärke“ (Frankfurt am Mai 1971) und „brief mit blauem siegel“ (Leipzig 1973). In beiden Staaten in Deutschland publizierte er, argwöhnisch beäugt von den SED-Granden, wohlwollend kommentiert aus literarischen, vor allem aber politischen Gründen aus der Bundesrepublik: Hier schrieb einer gegen die Verhältnisse und das so gut codiert und sprachlich verdichtend, dass sich damit Hoffnungen und Respekt vermischten. Wallmann wurde nicht müde, all sein publizistisches Können einzubringen und so Mut zu machen – dem Dichter und denen, die an ihn glaubten. Im sog. Westen galt die DDR wenig und man hatte sich in die Teilung des Landes eingerichtet, die Grenze hielten nicht wenige im PEN und in Rundfunkanstalten für friedenserhaltend und den SED-Staat als die richtige Konsequenz aus der NSDAP-Diktatur, eben für „das bessere Land“. In der von Karl Otto Conrady 1993 herausgegebenen Anthologie „Von einem Land und vom anderen“ zur „deutsche Wende“ (schon der Begriff Wende ist fatal) wird das deutlich bei Autoren wie Volker Braun oder Christa Wolf. Anders dichtete auch hier Reiner Kunze, was ihm - bis heute? – die Abstempelung als „Rechter“ oder politisch Unterbelichteter einbrachte. In der FAZ finden sich seine Gedichte seit 1990 nicht, stattdessen dürfen Germanisten dort Selbstverfasstes als Lyrik zum Besten geben.
Brief du
zweimillimeteröffnung
der tür zur welt du
geöffnete öffnung du
lichtschein,
durchleuchtet, du
bist angekommen
Ein Gedicht aus dunkler DDR-Zeit, als alle Briefe in den „Briefverteilerämtern“ durchleuchtet und kontrolliert wurden, seit 1950. Der Brief als Geliebte und Botin zur Welt, das so zu sehen und zu erfinden, geschliffen an der politischen Wirklichkeit, kann nur ein Dichter von Rang; die Codierung ist so perfekt, dass die politische Kontrolle versagte.
Reiner Kunze musste im SED-Staat immer um sein Leben fürchten, zumal seine Gesundheit zuweilen papierendünn war und Repressionen die Seelenkräfte bedrängten. Zwei Ereignisse bewogen die Eheleute Kunze, nach Bayern zu wechseln: die Ausbürgerung seines Freundes Wolf Biermann, begleitet durch heftige Proteste auch von Autoren in der DDR, und die Veröffentlichung des Bandes „Die wunderbaren Jahre“ in Frankfurt am Main, mit Prosaminiaturen aus dem DDR-Alltag; es sind Szenen, die ihm Leser zuschickten und die er verdichtete. Beides geschah im Jahre 1976. Wallmann nahm an der Entstehung der Prosaepisoden teil, fächelte Mut zu und wusste, dass in diesen Stücken politischer Sprengsatz lag und der Autor stets die Beschlagnahme durch die SEDisten befürchtete. Das Manuskript musste getarnt und schließlich über die Grenze geschmuggelt werden. Auch der Stuttgarter Rundfunkmann Karl Corino unterstützte.
Als Kunze in den Geltungsbereich des Grundgesetzes 1976 überwechselte, wurde er literarisch und politisch gefeiert. Der Büchner-Preis 1977 (Laudator war Heinrich Böll) ist sicherlich der bedeutendste. Zudem im selben Jahr der Georg Trakl-Preis für Lyrik zusammen mit Friederike Mayröcker und zusammen mit Rose Ausländer mit dem vom Bund dotierten Andreas Gryphius-Preis der Künstlergilde Esslingen (was Heiner Feldkamp übersehen hat). Anlässlich des 80. Geburtstages gab ich 2013 zusammen mit Günter Kunert den Band „Dichter dulden keine Diktatoren neben sich“, ein Lesebuch von 40 Autorinnen und Autoren, die diesem Kunze-Vers nahestehen, heraus, der dann von Norbert Lammert in der Akademie der Konrad Adenauer-Stiftung in Berlin vorgestellt wurde. Wie bei diesem Briefband war es ein kleiner Verlag (der Verlag Ralf Liebe, nicht Klaus Liebe), nicht etwa S. Fischer, der Hausverlag von Kunze, der sich die Mühe machte. Und so entstand ein Buch, das ihn erkennen lässt, dass Reiner Kunzes Texte über den politischen Zuweisungen und Stigmatisierung stehen und auch, wie abseitig Parolen von Politikern wie Claudia Roth 1991 waren, die mit dem Spruch „Nie wieder Deutschland“ zeigte, dass sie Deutschland nicht als Land erkennen kann, das erst durch durch die Sprache der Dichter zu sich selbst findet. Robert Habeck – er schrieb 1990 den Gedichtband „Das Land in mir“ - weiß es besser. Und Kunze erst recht. Die Millimeteröffnungen seiner Texte in Prosa und Lyrik sind Poesie, die die Welt erhellen. 2023 wird Reiner Kunze 90. In diesem Jahr würdigt ihn die Künstlergilde Esslingen am 17. September mit dem von der Stadt dotieren Nikolaus Lenau-Preis für Lyrik. In Anlehnung an Tucholsky ließe sich sagen: Ohne Reiner Kunze wäre Deutschland ein Irrtum.
Heiner M. Feldkamp, „Nabelschnur zur Welt“, Reiner Kunzes deutsch-deutscher Briefwechsel mit Jürgen P. Wallmann. Ausgewählt und herausgeben von Heiner M. Feldkamp Edition Toni Pongratz, 180 Seiten, Hauzenberg 2022