Die Vielstimmigkeit blieb auch in diesem Jahr ein Markenzeichen des National Theaterfestivals (FNT) in der rumänischen Hauptstadt, und gerade darin liegt die Faszination dieser einzigartigen Veranstaltung, die sich in Bukarest ein Stammpublikum erarbeitet hat. Gerade für die Theaterbegeisterten hat das FNT immer Überraschungen parat, in Form von Vorstellungen, die unerwartet zu Publikumslieblingen avancieren oder begeistern, ohne dass man damit unbedingt gerechnet hätte. Das ist das Verdienst der Leiterin des Festivals, die Theaterkritikerin Marina Constantinescu.
Eines jener unerwarteten Highlights war die Vorstellung „Mutter“ der belgischen Compagnie Peeping Tom, eine theatralisch-choreografische Performance, die es schafft, in einer knappen Stunde zahlreiche Fragen über das Menschliche und über die Kunst in den Raum zu stellen. Sie bedient sich dabei der vielfältigen technischen Mittel, die dem Theater heute zur Verfügung stehen – beispielsweise durch den Umgang mit Geräuschen oder Lichteffekten. Zunächst verstörend, durch die Darstellung einer sterbenden Mutter, spielt die Vorstellung unentwegt mit den Erwartungen des Zuschauers nach einer kausal-linearen Erzählweise, die jedoch nicht erfüllt wird. Vielmehr entwickelt sich vor unseren Augen ein multisensorielles Spektakel der Fragmentarität, das die Mutter als schwangere, gebärende, erziehende, liebende und geliebte, oder auch störende Omnipräsenz zeigt.
Mit viel Ironie und Witz werden ernste Themen wie die zwischenmenschlichen Beziehungen, die Übertechnisierung der Welt und die Rolle der Kunst thematisiert. Dabei liegt der Fokus nicht auf dem gesprochenen Wort, sondern auf der Bewegung. Die Darsteller zeigen eine sagenhafte Körperbeherrschung und drücken eine schier unendliche Palette an Emotionen aus: Trauer, Schmerz, Freude, Lust, Glück. Die surreale Welt, die dargestellt wird, ist der unsrigen nicht so fern, wie es auf den ersten Blick erscheint. Für den Menschen von heute ist nämlich eine wesentliche Frage jene, wie in unserer Welt Gefühle geäußert werden und welche Rolle der Kunst in diesem Zusammenhang zukommt. Die begeisterte Reaktion des Publikums auf diese unkonventionelle Vorstellung war der Beweis dafür, dass das Experiment der Choreografin und Regisseurin Gabriela Carrizo geglückt ist.
Eine ähnliche Ästhetik der Reizüberströmung nutzt auch Regisseur Simon McBurney in seiner Sicht von Stefan Zweigs Roman „Ungeduld des Herzens“, eine Koproduktion der Schaubühne Berlin und des Complicité London. Die Geschichte um den jungen Leutnant Hofmiller und seine ambivalente Beziehung zu Edith, der gelähmten Tochter eines Adligen, wird als mehrstimmige Lesung mit szenischen Momenten dargestellt, begleitet von einer Geräuschkulisse, welche dem eher statisch konzipierten Erzählfluss Dynamik verleiht. Die technisch aufwendige und schauspielerisch überzeugende Produktion – eine sagenhafte Leistung des Ensembles der Schaubühne – gestaltet sich puzzle-ähnlich. Die Geschichte, die vor dem Anfang des Ersten Weltkriegs verortet ist, spricht über die Einsamkeit des Individuums, über die Abhängigkeit von der Beurteilung durch die Gesellschaft: Hofmiller leugnet seine Gefühle für Edith oder lässt sie gar nicht erst aufkommen, aus Furcht vor der Reaktion seiner Kameraden. Somit wird Empathie gar nicht erst möglich, und die Tragödie (der Selbstmord Ediths) ist unaufhaltbar. Seiner Verantwortung erst spät bewusst, stürzt sich Hofmiller in den Krieg. Er stellt fest, so endet auch Zweigs Roman: „Keine Schuld ist vergessen, solange das Gewissen um sie weiß“. Simon McBurney zeigt in der Schlussszene Hofmiller blutüberströmt, während im Hintergrund in rascher Folge Bilder von Kriegen, Konflikten und Politikern aus den letzten hundert Jahren eingeblendet werden, das letzte Bild, und das einzige, das in der schnellen Abfolge deutlich zu sehen ist, zeigt ein überfülltes Schiff mit Flüchtlingen, wie sie in den letzten Jahren häufig in unseren Nachrichtensendungen zu sehen sind. Ein Ende, das lange nachwirkt.
Seit der Premiere vor genau einem Jahr ist die Produktion von Tracy Letts’ „Eine Familie (August: Osage County)“ am Bukarester Kleinen Theater (Teatrul Mic) in der Regie von Vlad Massaci stets ausverkauft. Es hat sich herumgesprochen, dass Rodica Negrea in der Rolle der Violet eine wahrlich Oscar-reife Leistung erbringt, wie man sie auf unseren Bühnen schon lange nicht mehr erlebt hat. Nicht nur, dass diese komplexe Rolle sehr gut zu ihr passt, die Schauspielerin füllt sie mit einer unglaublichen Intensität und Glaubhaftigkeit. Als Patriarchin einer zerbröselnden Familie ist sie in ihrem Wunsch, sie um jeden Preis zusammenzuhalten, der Garant ihres Untergangs. Sie tut nicht nur nichts, um den Selbstmord ihres Mannes Beverly aufzuhalten, sie versucht, ihre drei Töchter an sich zu binden und zerstört somit deren Ehen oder Beziehungen, während sie, krebskrank und tablettenabhängig, eigentlich selbst dem Ende ihres Lebens entgegenblickt. Mit unglaublicher Wucht und Natürlichkeit hat Rodica Negrea die Fäden dieses psychologischen Stücks in der Hand, ist Dreh- und Angelpunkt der Produktion über die Zusammenkunft der Mitglieder einer Familie angesichts des Todes des Vaters (Beverly) und deren Auflösung angesichts der verdrängten und letztlich offenbarten Geheimnisse. Ein intensiver Theaterabend und eine schauspielerische Leistung, die eine entsprechende Würdigung verdient.
Zwei Schauspieler stehen auch im Mittelpunkt der Produktion „Stage Dogs“ (nach David Mamets „A Life in the Theatre“) am Act Theater Bukarest: Marcel Iureș und Florin Piersic Jr. Die Produktion ist eine Collage aus Szenen aus dem Leben zweier Schauspieler, die über deren Selbstverliebtheit, Besserwisserei und Verachtung anderer Schauspielerkollegen sowie des Publikums erzählt. Auf das Wesentliche, d. h. die einfachen Mittel der Schauspielkunst fokussiert, bietet es einen Blick hinter die Kulissen und erlaubt den beiden Darstellern über sich und ihre Kunst zu erzählen – ein kurzweiliger Abend, etwas für die Fans der beiden beliebten Darsteller.
Mit über 40 Theatervorstellungen und zahlreichen begleitenden Veranstaltungen (Ausstellungen, Künstlerehrungen, Konzerten) ist das Nationale Theaterfestival eines der bedeutendsten Kulturevents nicht nur Bukarests, sondern auch des Landes, und der Haupttreffpunkt der rumänischen Theaterszene. Den Theaterliebhabern wird die Möglichkeit geboten, zu entdecken, was die regionalen Bühnen zu bieten haben, was auch dazu beiträgt, dass Bukarester entdecken, dass es auch eine faszinierende Kulturszene außerhalb der Grenzen der Hauptstadt gibt. Durch die Übertitelung der Stücke ins Rumänische (für die Produktionen der ausländischen sowie der Minderheitenbühnen) und Englische wird der Zugang eines breiten Publikums zu den Produktionen ermöglicht. Bukarest steht zehn Tage lang im Zeichen des Theaters sowie der Welten, in die uns die Kunst entführt.
Für den Zuschauer ist die bedeutendste Frage immer wieder, welche Themen im Mittelpunkt stehen und welche Mittel eingesetzt werden. Somit ist das Festival stets ein Spiegel der Zeit, in der wir leben.