Für die futuristischen Künstler, die sich vor dem Ersten Weltkrieg um Marinetti sammelten, war es die Technik, die Maschine, die sie als Allheilmittel gegen jegliches soziales Übel ansahen. Von allen Maschinen wurde das Auto am meisten besungen. Umberto Boccioni malte 1910/11 ein Bild „Die Stadt erhebt sich“, ein muskulöses rotes Pferd scheint sich im Flimmern tanzender Pinselstriche durch die Kraft seiner eigenen Energie aufzulösen. Wie war Bewegung, wie war Geschwindigkeit zu malen? Die Futuristen nahmen Zuflucht zum Kubismus und zur Fotografie. Man fotografierte die Bewegungsabfolgen einer Figur auf nur einer Platte und konnte so die zeitliche Dimension in die räumliche übertragen. Der Körper hinterließ in der Luft eine Erinnerung an sein Vorübergehen. Giacomo Ballas Gemälde „Bewegungsrhythmus eines Hundes an der Leine“ (1912) ist wahrscheinlich aus solch einer Nahaufnahme entstanden. Eine modisch gekleidete Dame – nur ihre Füße sind sichtbar – führt ihren Dachshund den Bürgersteig entlang spazieren. Überschäumend von Hektik dagegen Gino Severinis „Bal Tabarin“ (1912), ein wildes Knäuel von Assoziationen und Fragmenten im zuckenden, packenden Rhythmus der Popmusik. Alles erweckt den Eindruck einer außer Kontrolle geratenen Maschine, einer Vergnügungsmaschine. Demgegenüber strömen die Bilder Giorgio de Chiricos dann wieder Melancholie, zeitlose Ruhe, ein Gefühl von Machtlosigkeit und einer unwiederbringlich verlorenen Vergangenheit aus.
Erscheint uns also die Geschichte der Moderne zunächst als eine Geschichte der Beschleunigung, so war mit der Faszination für die entfesselte Bewegung dann auch wieder die Suche nach Entschleunigung, nach Ruhe, Rückzug und Kontemplation verbunden. Das Kunstmuseum in Wolfsburg präsentiert jetzt eine thematische Ausstellung, die in der Tat den Nerv der Gesellschaft trifft: Die Geschichte der modernen Kunst war und ist – so der Grundgedanke dieser Ausstellung – immer auch eine Geschichte komplementärer Tendenzen von Bewegung und Ruhe, Be- und Entschleunigung. Neben der Avantgarde der Maschinenbeschleunigung habe es fortwährend auch eine Avantgarde der Entschleunigung gegeben, welche die Dynamik der Stille und die Tiefe des Seins erforschen wollte, angefangen von den Sehnsuchtsbildern der Romantiker über die metaphysischen „Tauchfahrten“ der Symbolisten und Surrealisten bis zu der ruhigen Farbfeldmalerei eines Mark Rothko oder Barnett Newman. 160 Arbeiten von 85 Künstlern – von Caspar David Friedrich bis zu dem chinesischen Regimekritiker und Avantgardisten Ai Weiwei – sollen diese Dialektik von Bewegung und Ruhe veranschaulichen.
Beeindruckend schon der Auftakt: Ein Modell der ersten Dampfmaschine von James Watt, die 1776 in London installiert wurde – damit begann quasi das Industriezeitalter. Kurz darauf ließ Goethe vor seinem Gartenhaus in Weimar den „Stein des guten Glücks“, eine Kugel auf Quader als Sinnbild der Balance zwischen Tatendrang und Besinnung, aufstellen. Und als kontemplativer Dichterfürst inmitten der römischen Campagna ließ er sich 1787 von Tischbein malen. Schließlich soll das Modell eines Zukunftsautos aus Hussein Chalayans Film „Place to Passage“ eine Art „Zeitkapsel“ gegen Stress und Terminhetze darstellen, das die „Ruhebewegung“ zukünftiger Transportmittel vorwegnimmt.
Dann kommt es zu einer nicht weniger gelungenen Konfrontation des technikbegeisterten britischen Künstlers William Turner mit dem romantischen Maler Carl David Friedrich. Turner führte mit dramatischer Dynamik Motive der Industrialisierung ein, während Friedrich davor warnte, dass die Technik Menschen formen würde, die Maschinen gleichen, ohne eigenen Willen und eigene Triebkräfte. Diese Exponenten für Bewegung und Ruhe wurden dann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Edgar Degas mit seinen Balletttänzerinnen in einer äußerst zugespitzten Bewegung und Odilon Redons Traum- und Phantasiewelten. Zwar wurde in der Moderne der Beschleunigungsgedanke prägend, aber in gleicher Weise schlich sich als Gegentendenz eine Ästhetik der Ruhe und der Hang zur Innenkehr ein. Der kopflose „Torso“ von Rodins „Johannes der Täufer“ orientiert ganz auf das kraftvolle Vorwärtsschreiten, während Maillols Figuration des Mittelmeers – „La Méditerranée“ – zu einem Sinnbild der Ruhe und Nachdenklichkeit geworden ist. Kupkas Bild „Linien, Flächen, Räume“ von 1911/12 wird neben die Filmpojektion des Schlangentanzes nach der amerikanischen Tänzerin Loie Fuller gestellt. Inszeniert Giacomo Balla in „Velocita + Luci“ mit flirrenden Farben die elektrisierenden Lichter und die Kraft der Motoren, so ist der Bildraum bei Giorgio de Chirico in Unbeweglichkeit erstarrt.
So geht es dann weiter: Futurismus und Pittura metafisica, Marcel Duchamp (sein „Fahrrad-Rad“ von 1913 stellt ein „stillgestelltes Bewegungskunstwerk“ dar), Eadweard Muybridge (er hielt mit seinen parallel aufgestellten Kameras die verschiedenen Bewegungsphasen des Pferdegalopps fest) und die Anfänge der Kinematografie, der Orphismus und Parallelismus (den „Bewegungsstandbildern“ Robert Delaunays stehen die stillen, monumentalen, überzeitlichen Landschaften des Symbolisten Ferdinand Hodler gegenüber), die geometrische Abstraktion und der Magische Realismus, die Kunst des Suprematismus und Konstruktivismus (der Russe Kasimir Malewitsch komponierte Bilder, in denen Rhythmik und das Verhältnis der Formen im Vordergrund standen, während die neue Perspektive der Luftfahrt die Technikästhetik seines Landsmannes Tatlin inspirierte) und nach 1945 die Kinetik, Op-Art und Zero (Jean Tinguely versetzte den Suprematismus Malewitschs in Bewegung, aber seine Bewegungsreliefs gerieten bald zur Kritik am Fortschrittswahn der Leistungsgesellschaft; Günther Ückers Nagelreliefs spielen mit der Bewegungsillusion durch eine gegenläufige Anordnung der Nägel) werden nach der Dichotomie von Bewegung und Ruhe befragt. Ruhe und Kontemplation beherrschen die Farbfeldmalerei Mark Rothkos und der Action-Painting Jackson Pollocks. Und so wird auch die Kunst der letzten Jahrzehnte nach ihrer Beziehung zu Technik und Natur, nach der Herrschaft der elektronischen Bilder, nach der Sexualisierung der Medien, nach den Lebenszeiten in Film, Video und Malerei und nach den Paradoxien der Mobilität heute untersucht. Ai Weiweis Porzellanschalen mit Süßwasserperlen können – abgesehen von dem ironischen Hinweis auf die obligate „Reisschüssel“ als die im Mao-Sozialismus garantierte Grundversorgung, als eine Rückbesinnung auf Naturalien als direkte Tauschmittel mit nicht-virtuellem Wert gelesen werden.
Vor dem Museum stehen zwei Autos, die sich im Zeitlupentempo aufeinander zu bewegen und mit Ende der Ausstellung werden sie frontal zusammenprallen und einander hochschieben. Der lautlose Car-Crash des Amerikaners Jonathan Schipper ist eine Warnung vor der ebenso unmerklichen wie ungebremsten Beschleunigung – aber kann deswegen die strikte Entschleunigung das wirksame Gegenmittel sein? Denn der Airbag müsste rechtzeitig explodieren, um den Stoß abzufangen. Das ist auch so eine Paradoxie unserer mobilen Gegenwart.