Der Schweizer Objektkünstler, Tänzer, Regisseur, Dichter, Erfinder der Eat-Art und Mitbegründer des Nouveau Réalisme, Daniel Spoerri, stammt ursprünglich aus der am Ufer der Donau gelegenen rumänischen Stadt Galatz/Galați, wo er 1930 als ältestes von sechs Kindern des jüdischstämmigen christlichen Missionars Isaac Feinstein und der Schweizer Lehrerin Lydia Spoerri geboren wurde. Der betagte, gleichwohl immer noch schaffenskräftige Künstler ist besonders durch seine sogenannten Fallenbilder bekannt: Objektmontagen, Materialbilder, Assemblagen von Dingen, Collagen von Gegenständen, die auf festen Unterlagen (Holztafeln, Spanplatten etc.) fixiert und später nach der Art von Stillleben an die Wand gehängt werden.
Die Verbindung dieser Fallenbilder zu der von Daniel Spoerri begründeten Eat-Art liegt auf der Hand: abgegessenes Geschirr von Festmahlen auf reich gedeckten Tafeln wird selbst zum Kunstwerk, das, hochkant gestellt und aus der Horizontale in die Vertikale gerückt, an das „Carpe diem“ des Horaz und an die Vergänglichkeit des Genusses wie des Lebens selbst gemahnt. In einer seiner Eat-Art-Aktionen hat Daniel Spoerri sogar die festlich gedeckten Tische, an denen gerade noch getafelt wurde, im wahrsten Sinne des Wortes zu Grabe getragen, indem er sie, samt und sonders mit Tischdecken, Besteck, Gläsern, Geschirr, Essensresten und allem sonst noch darauf Befindlichen, in die Erde eingrub: als Nature morte wie auch als Memento mori.
Die österreichische Filmemacherin Anja Salomonowitz hat sich mit ihrem 72-minütigen Filmporträt dem Künstler wie dem Menschen Daniel Spoerri auf eine sehr persönliche Art genähert. Ihr 2019 vollendetes Filmprojekt, eine Mischung aus Dokumentarfilm, Künstlerporträt, Biopic mit verteilten Rollen (Spoerri als Bub wird von einem Sohn der Regisseurin, Oskar Salomonowitz, verkörpert) und philosophischem Werkstattfilm, kann derzeit und noch bis zum 27. Mai im Rahmen des „Exklusiven Online-Kinos“ des Österreichischen Kulturforums Bukarest unter folgendem Link abgerufen werden: https://www.bmeia.gv.at/kf-bukarest/aktuelles/veranstaltungen/detail/article/exklusives-online-kino-dieser-film-ist-ein-geschenk-von-anja-salomonowitz/
Jenes höchst persönliche Thema, mit dem sich Anja Salomonowitz dem Künstler wie dem Menschen Daniel Spoerri in ihrem Film nähert, ja ihn gleichsam damit ins Herz trifft, ist der Verlust des eigenen Vaters, unter dem ihrerseits auch die Regisseurin leidet. Nicht von ungefähr spielt ein zersprungenes Porzellanherz eine wichtige Rolle im Film, das als Erinnerungsobjekt der Regisseurin an ihren Vater wie auch als Erbstück fungiert, welches von Daniel Spoerri gleichsam als Fundstück behandelt und im Laufe der Filmarbeiten in ein neu entstehendes Kunstwerk, eine Objektcollage, inkorporiert wird. Trauer und Verlust werden so in einem Prozess der künstlerischen Umgestaltung zu frohem Spiel und schöpferischem Gewinn umgewertet. In ähnlicher Weise integriert Anja Salomonowitz in ihr Filmporträt von Daniel Spoerri einen Kurzfilm des Künstlers aus dem Jahre 1969 mit dem Titel „Resurrection“ (Wiederbelebung, Auferstehung), der auf seine avantgardistische, teils humorvolle, teils schockierende Weise den Tod in Leben verwandelt und dem Gegenstand des Kurzfilms – einer geschlachteten Kuh – eine umfassende restitutio in integrum angedeihen lässt.
Daniel Spoerris Vater, Isaac Feinstein, wurde 1904 im Schtetl von Dorohoi in eine chassidisch-jüdische Kaufmannsfamilie hineingeboren, konvertierte jedoch als Zwanzigjähriger in Bukarest zum Protestantismus, wurde nach einem vertieften Bibelstudium christlicher Missionar im Dienst der Norwegischen Israel-Mission und nahm sich als solcher in Galatz der Evangelisation seiner früheren jüdischen Glaubensbrüder an. Als strenger Lutheraner hatte er seinen ältesten Sohn lieb und züchtigte ihn, wo-ran sich Daniel Spoerri in Salomonowitz’ Film lebhaft erinnert. Nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs erhielt Isaac Feinstein das Angebot, mit seiner Familie nach New York überzusiedeln, entschied sich aber dafür, in Jassy/Iași bei seiner Gemeinde zu bleiben, genauso wie er es 1941 ablehnte, sich mit seiner Familie zu seinen Freunden, zu denen auch der deutsch-jüdische anglikanische Pfarrer Richard Wurmbrand zählte, nach Bukarest zu flüchten. So wurde er Opfer des Jassyer Pogroms im Sommer 1941. Er starb, erstickt oder verdurstet, im zweiten Todeszug bei Podu Iloaiei. Daniel Spoerri erzählt im Film von einem späteren Besuch dieses in Rumänien gelegenen Ortes, wo sein Vater starb, und vor allem davon, wie ihm der Vater zeitlebens fehlte.
Dass Anja Salomonowitz diverse Kindheitserinnerungen Daniel Spoerris durch ihren eigenen Sohn Oskar wiedergeben, ja von ihm nacherzählen lässt, wirkt im ersten Moment befremdlich, gewinnt aber im Laufe des Films nach und nach an Plausibilität, denn der kleine Daniel, der im Krieg Zigarettenpackungen sammelte oder in ausgebombten Häusern nach Plunder zum Verscherbeln suchte, war damals eben nur ein junger Bub und keineswegs die Präfiguration einer großen Künstlergestalt. Eine besondere Kindheitserinnerung Daniel Spoerris hat die Regisseurin ihrem Sohn aber dann doch nicht in den Mund gelegt, sondern diese vom Zeitzeugen selbst erzählen lassen: wie nämlich der Vater Isaac bei der Aushebung zu deportierender Juden seinen Sohn Daniel, der das behördlich festgelegte Deportationsalter bereits erreicht hatte, durch keine Lüge, nicht einmal durch eine Notlüge, retten mochte, und wie der Sohn am Ende doch noch vor dem Schicksal der Deportation bewahrt wurde. Die Mutter floh 1942 mit ihren sechs Kindern aus Rumänien in die Schweiz, wo Daniel bei seinem Onkel Theophil Spoerri aufwuchs, dem bedeutenden Schweizer Romanisten und späteren Rektor der Universität Zürich.
Die Sammellust des Kindes wurde dann später zu einem inneren Movens der Kunst Daniel Spoerris, der unzählige Objekte des Alltags – Spazierstöcke, Kochlöffel, Nudelhölzer, Gabeln und vieles mehr – in großen Mengen sammelte oder auch gezielt auf Flohmärkten erwarb und diese dann zu Objektcollagen oder zu Assemblagen von Gegenständen kombinierte und komponierte. Als Betrachter des Films wird man Zeuge, wie im Laufe der Filmarbeiten allmählich ein Kunstwerk entsteht: eine Assemblage von Haushaltsgegenständen, bei denen eine kaputte Knoblauchpresse und diverse Siebe eine besondere Rolle spielen. Zwi-schendurch werden die assemblierten Gegenstände beim gemeinsamen künstlerischen Spiel von Daniel Spoerri und Oskar Salomonowitz zu Musikinstrumenten umfunktioniert, und auch hier spricht der junge Sohn der Regisseurin Texte des altersweisen, kunstversierten und lebenserfahrenen Daniel Spoerri nach, als handelte es sich um seine eigenen.
Das Leben der Gegenstände, die durch das Kunstwollen Daniel Spoerris aus ihrem praktischen Alltagsgebrauch herausfallen, dadurch gleichsam absterben, zugleich aber im künstlerischen Prozess ästhetisch wiederum revitalisiert werden, wird zur Metapher der Wiederbelebung und Auferstehung, zum Sinnbild eines Lebenskreislaufes, in dem der Tod den Keim neuen Lebens in sich trägt und dieses aus sich entfaltet. So kreisen viele Gespräche oder Selbstgespräche in diesem filmischen Künstlerporträt um die enge Verflochtenheit von Tod und Leben, Verlust und Gewinn, Niedergang und Aufgang.
Berührend sind auch die Dialoge zwischen dem neunzigjährigen Künstler und dem jungen Buben, die sich gegenseitig die völlig verschiedenen Welten, in denen sie leben, mitteilen und diese miteinander zu vermitteln suchen. Die Stimme der Regisseurin begleitet das gesamte Leinwandgeschehen aus dem Off, die statuarische Kamera (Martin Putz) ist überall mit dabei, sei es im Wohnzimmer, sei es im Atelier, und der Spoerrische Kurzfilm „Resurrection“ fasst den Salomonowitzschen Langfilm ein wie ein Schmuckstück, dessen Gemme er selber ist. Der Film von Anja Salomonowitz mit dem Titel „Dieser Film ist ein Geschenk“ ist tatsächlich ein Geschenk: der Regisseurin an den porträtierten Jubilar, des Objektkünstlers an die Dokumentarfilmerin, und beider an das Publikum.