Eshkol Nevo, der Enkel des früheren israelischen Ministerpräsidenten Levi Eshkol, ist, statt in die Politik zu gehen, Schriftsteller geworden. Und ein guter noch dazu, wenn man bedenkt, wie viele literarische Preise er für sein Werk erhalten hat: Unter anderem den Steinmatzky Preis für seinen Roman „Neuland“ (dtv, 2016) und den Premio Letterario Adei-Wizo für „Wir haben noch das ganze Leben“ (dtv, 2012). Die deutsche Fassung seines letzten Romans, mit dem eher nichtssagenden übersetzten Titel „Über uns“, erschien auch im dtv Anfang des Jahres, wobei ich den englischen Titel „Three Floors Up“ oder den rumänischen „Trei etaje“ für die bessere Übersetzungsvariante halte.
Denn das ist der Kern des Romans, ein dreistöckiges Gebäude in einer gentrifizierten Gegend in Tel Aviv, eine Art „Bürgesistan“ der israelischen Hauptstadt, und dessen Bewohner: In der ersten Etage wohnt Arnon mit seiner Frau, Ayelet, und den zwei Kindern, Yaeli und Ofri. Arnon beichtet einem guten Freund von seiner dysfunktionalen Ehe, und das, was man gewöhnlich für eine Midlife-Crisis beschreiben kann. Es kommt, wie es kommen muss: Eine gut funktionierende Ehe und eine Liebesbeziehung, die wunderbar angefangen hat, nimmt ein trauriges Ende.
In der zweiten Etage wohnen Chani und Assaf mit ihren Kindern. Wenn die erste Erzählung eine Ehekrise aus der Sicht eines Mannes darstellt, wird mit der zweiten Geschichte das Gegenteil beschrieben, nämlich dieselbe Art von Beziehungskrise, jedoch aus weiblicher Sicht: Chani ist, obwohl verheiratet, meist alleinerziehend, ihr Mann Assaf ist sehr viel geschäftlich unterwegs. Offensichtlich hat Chani ernstzunehmende Bewusstseinsstörungen, und beichtet in Briefform einer alter Freundin über ihr Leid, und auch über das Geschehen mit ihrem Schwager, Eviatan, der sowohl von der Polizei als auch von der Unterwelt gesucht wird und eine Bleibe sucht. In der dritten Etage wohnt Dvorah, eine pensionierte Richterin, deren Ehemann, Michael, ein höchst angesehener Richter, vor kurzer Zeit gestorben ist. Der Leser erfährt, dass Michael ein sehr dominierender Ehemann war, und nun erhält der Leser auch die dritte Beichte: Dvorah muss ihr Leben neu einrichten, und sie spricht ihre ganze Geschichte auf den Anrufbeantworter, auf dem die Stimme ihres Ehemannes noch zu hören ist. Für den belesenen Leser wird spätestens jetzt klar, dass Eshkols Roman, wie der Autor selbst auch zugegeben hat, schwer von Albert Camus „Der Fall“ (französisch „La Chute“, 1956) inspiriert ist, denn auch da wird der Leser mit dem Monolog des „Bußrichters“ Jean-Baptiste Clamence konfrontiert. Das Schöne an diesem Roman ist der Blick hinter die Kulissen: Auf unterschiedliche Art und Weise erzählen die Hausbewohner von ihrem Intimleben, und es stellt sich heraus, nichts ist so, wie es von außen scheint. Ehen, die dem Außenstehenden als glücklich erscheinen, sind eigentlich schon passé. Der von der Polizei und der Mafia gesuchte Bruder entpuppt sich als der bessere Ehegatte. Sogar eine Trennung vom Ehemann, die zu Lebenszeiten nicht möglich schien, kann nachgeholt werden. Eskhol beleuchtet gekonnt die Schattenseiten des Lebens, die nie öffentlich ausgesprochenen Beichten der Wahrheit, denn wie heißt es so schön: „Die reine Wahrheit bekommt man entweder an den Kopf geworfen oder unter Tränen gebeichtet“.