Von der Antike bis heute zieht sich die Reihe der Dichterjuristen, so als ob das Regelwerk des Rechts sein Gegenteil, die grenzüberschreitende Poesie, zur eigenen Rechtfertigung einfordert. Dass Matthias Buth sich in dieser Tradition befindet, belegen allein die mehr als 15 Gedichtbände, die der Anwalt und Kulturpolitiker veröffentlichte. In seinen Notizen, die in dem Band „Im Zwischenland“ erschienen, ist die ganze Lebenswelt des Allgemeinen und des Besonderen erfasst, um darüber hinaus zu gehen. Bernd Leukert hat sich eingelesen.
Noch zwei Jahre zuvor kam im Verlag PalmArtPress der Band „Die weiße Pest“ heraus, in dem Matthias Buth, der auch emsiger Faust-Kultur-Autor ist, Gedichte in Zeiten der Corona versammelte, Gedichte, die ihr Entstehen, ihre thematischen Bezüge und Reaktionen den Bedingungen verdankten, die die Pandemie hervorrief. Sie wirken allerdings nicht wie eine Kunde aus der Vergangenheit und reichen weit über den Anlaß und die Corona-Zeit hinaus.
Dann, 2022, also Buths Buch „Im Zwischenland. Rhapsodien“: Selten war ein Titel treffender. Diese 780 Notizen insgesamt zu charakterisieren, wäre absurd. Die Rhapsodie versteht sich als formal ungebundener poetischer, musikalischer Verlauf, dessen Agogik auch das Sprunghafte, Heterogene, mit Plötzlichkeiten Versehene zuläßt. Sie ist frei von thematischer und (wie etwa das Sonett) argumentativer Bindung.
Andere Autoren, die ihre Notate einem gut geregelten, oft streng getakteten Leben abringen, befinden sich in einem alltäglichen thematischen Rahmen, der auch bei Reisen, außerhäusigem Unterrichten oder anderen Absenzen stets durch nachholende Berichte und Reflexionen geschlossen und bestätigt wird. Dieser Rahmen bringt ein Gleichmaß in das biografische Aufschreiben, das Matthias Buth ebenso verweigert wie die Veräußerung des Privaten. Was also sind diese kapriziösen Rhapsodien? Es sind Auszüge aus einem künstlerisch-intellektuellen Leben, die ihre Niederschrift in Miniaturen des Wahrgenommenen samt Reflexion und Assoziation verwandelte.
Viele erscheinen als aphoristisch zugespitzte Beobachtungen wie in Nr. 730:
„Die Bienen kamen schon im Januar aus den Stöcken. Der Winter war ein Frühling, der tötete. Bei 15 Grad flogen sie aus. Die Gelbwesten nutzten nichts. Der Wald eine graue Mauer.“
Und auffallend oft stößt er über Assoziationen zur Gegenwart vor. Etwa - und das muss einem Nicht-Kölner erklärt werden - was das besondere Verhältnis zum Wahrzeichen ihrer Stadt angeht: die Hohe Domkirche Sankt Petrus, kurz: der Kölner Dom ist für die Eingeborenen, die ihn auch liebevoll „Eselsohren“ nennen, selbst für die zugezogen-Dortgebliebenen ein Objekt der Identifikation, also beinahe ein Subjekt, mit dem man auf äußerst vertraulichem Fuß steht.
In Buths Gedicht „Mitra“ aus dem Band „Die weiße Pest“ hieß es noch, Hölderlin streifend:
„Sprachlos und kalt steht der Doppelturm.“
In Nr. 538 der Rhapsodien legt sich Gefährdung auf das Bauwerk:
„Köln Twin Towers stehen noch, die Flugzeuge landen brav am Flughafen Konrad Adenauer, aber seit 2001 duckt sich der Rhein und färbt sich staniolsilbern bei aufziehendem Gewitter. So lenkt er alle Gedanken ab, die unsichtbaren Suchscheinwerfer.“
Mit Suchscheinwerfern wurde in den beiden Weltkriegen - und noch in der Nachkriegszeit - der Himmel nach feindlichen Flugzeugen abgesucht, um sie mit der Artillerie abschießen zu können. Sie machten den Feind also sichtbar. Abgelenkte Gedanken gleich unsichtbaren Suchscheinwerfern, - der Rhein bewirkt ein Twin-Paradox. Solche beiläufigen Widersprüche bilden häufig den Dreh- und Angelpunkt seiner Notizen:
Nr. 442: „Sich ganz dem Schönen und Unnützen hinzugeben, es in den Verwunderungen und Wunden (wie nah sind sich diese Worte) aufzuspüren, zu erfinden und sich diesen anzuvertrauen wie einer Partisanin, die Zuflucht gibt für Augenblicke - was kann mehr erhalten?“
Hier bietet Buth einen mehrstufigen Widerspruch an. Das Schöne und Unnütze nicht nur in den Verwunderungen - was ein romantisches Motiv wäre -, sondern auch in den Wunden aufzuspüren, ist schon eine Zumutung; sie aber darüber hinaus noch zu erfinden und sich ihnen, also den erfundenen Verwunderungen und Wunden, anzuvertrauen wie einer Partisanin, also einer bewaffneten Parteigängerin, die per definitionem in der Gefährdung lebt und Zuflucht gibt für Augenblicke? Wenn also die Hingabe an das Schöne und Unnütze in der Gefährdung mehr erhält als alles andere, dann wird - für Augenblicke - ein ekstatischer oder eben epiphanischer Zustand beschworen, der für einen gläubigen Menschen einen Vorgeschmack des ewigen Lebens gewährt. Solche mystischen Ausblicke muss man in diesem Buch nicht suchen. Sie finden sich von selbst. Allerdings pflegt der rheinische Katholik Buth auch einen lebensweltlichen Umgang mit den heiligen Ritualen.
Nr. 612: „Jeder Kölner weiß, was fringsen bedeutet, das Nehmen auch gegen das Verbot, weil der Überlebenswille dazu zwingt. Josef Kardinal Frings kam auch nach Wuppertal-Sonnborn, 1962 war es, seine Augen sahen fast nichts mehr, auch nicht hinter fingerdicken Brillengläsern. Und mit einer Taschenlampe wurden ihm die Worte des Messbuchs erleuchtet. Aber er sprach aus dem Herzen, von Lichtern, die das Gewissen in Gang setzen sollten für Ja und Nein, Gut und Böse. Jeder hörte kurkölsche Klänge, die alles himmlisch verwischten. Dann firmte er die Mädscher und die jung Kääls, indem er sie salbte - auf der Stirn. Auch mich. Durch die Rosette schaut er mich nun an, durchs mehrfach gebrochene Fenster.“
Matthias Buth missioniert nicht. Er führt seinen Gott mit sich. Und im Gegensatz zu Rilke (Der Tod ist groß) imaginiert er nicht den weinenden Tod in uns, sondern eine Geburt:
Nr. 569: „Gott auf der anderen Seite der Welt, des Geschaffenen: das unerreichbare Gegenüber, das dennoch wartet, in mir geboren zu werden. Gottheit wird Menschheit. Ursprung.“
Gott wird zum Menschen verklärt. Buth - und das erinnert doch stark an die coincidentia oppositorum des Cusaners - hat den Mut zur Inversion, selbst wenn er damit frommen Seelen die kindliche Heilserwartung verdirbt. Dennoch tut er dies nicht mit Lust an der Destruktion, sondern mit einer Hingabe, die von einem Juristen, der er auch ist, nicht unbedingt zu erwarten ist. Dieser, alle mit Recht kritischen Aspekte übergehende Hingabe verdanken sich auch seine Bemerkungen zu Musik.
Nr. 556: „Hélčne Grimaud spielt Brahms und Schumann nicht nur, sie wird Musik. Als hätten Johannes und Robert nur für sie komponiert, ja fast, als wäre sie Clara und Stern im Geliebten-Dreieck.“
Es ist die ungetrübte Begeisterung (was für ein Wort!) für die Klang-Kunst, die Einfühlung in die musikalische Gestik und - auch hier geht es um eine Verwandlung, die ein Musiker sehr gut kennt: Wenn er sich im Konzert von den Noten löst und selbst zum „Gesang“ wird, hebt er die Distanz zum Auditorium auf, und wer zuhört, spürt unmittelbar die Intensität, mit der die Musik auf ihn zugreift. Diese Erfahrung thematisiert Matthias Buth gerne, und einer der umfangreicheren Einträge ist Clara Schumann gewidmet (Nr. 564, S. 140 ff), in dem er auch auf das Entgrenzende, Romantische in Leben und Werk des Musikerehepaars hinweist. „Im Zwischenland“ sind vielleicht nicht nur blaue Blumen zu finden, aber sprachliche Wandelröschen in Hülle und Fülle, - vor allem solche, die sich aus dem Alltag ins Poetische wandeln:
Nr. 747: „Die Steuererklärung ist nun abgegeben, die Papiere gesucht, endlich gefunden und nun geordnet im gelochten Archiv. Hinter der Stirn werden die Schatten länger, der innere Blick ins vergraute Jahr entgleitet. Nebeltraurigkeit: Eisig ritzt Januar ins Fenster, früher konnte man seine weißen Blumen sehen.“
Wo nehmen wir die weißen Blumen her? - Im Nu steht, wenn es Winter ist, wieder Hölderlin vorm Fenster. Und wir können ihm nicht einmal Eisblumen anbieten.
Buths Rhapsodien können eben auch melancholisch klingen. Meistens jedoch spürt er neugierig auf, was ihm der Tag vor die Füße wirft, und zieht daraus Erkenntnis, poetischen Stoff, manchmal auch tierische Signale:
Nr. 4: „Die Wildgänse navigieren mit Siegeszeichen.“