In der Woche zwischen dem gregorianischen und dem julianischen Osterfest, in der rumänisch-orthodoxen Karwoche, wurde im Bukarester Athenäum das Opus Nr. 45 von Johannes Brahms – „Ein deutsches Requiem nach Worten der Heiligen Schrift“ – zu Gehör gebracht, das seine Uraufführung im Jahre 1869 im Leipziger Gewandhaus erlebt hatte. Der Titel dieses monumentalen Werkes für Solo-Sopran, Solo-Bariton, vierstimmigen Chor und Orchester macht bereits deutlich, dass es sich hierbei nicht um ein musikalisches Werk handelt, das sich an der Liturgie der katholischen Totenmesse – vom Introitus über das Offertorium bis zur finalen Communio – orientiert, sondern um eine Komposition, die ganz im protestantischen Sinne Bibelworte vertont, nach Luthers reformatorischen Prinzipien solum verbum (allein das Wort) und sola scriptura (allein die Schrift).
Die sieben Teile des Oratoriums – äußerlich hält Brahms also an der althergebrachten Siebenteiligkeit der kirchenmusikalischen Form des Requiems fest – vertonen Passagen des Alten und Neuen Testaments nach der Bibelübersetzung Martin Luthers. Im Vordergrund stehen dabei nicht Trauer und Totengedenken, sondern Trost und Beistand für die Lebenden und Leidenden. Dementsprechend setzt das Werk programmatisch mit der Seligpreisung aus der Bergpredigt Jesu ein: „Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden“ (Matthäus 5, 4). Psalmworte, Passagen aus verschiedenen Apostelbriefen, Zitate aus den Prophetenbüchern, aus der Weisheit Salomos, aus Jesus Sirach, aus dem Evangelium und aus der Offenbarung des Johannes bilden das Textkorpus der Komposition, das von Brahms eigenhändig zusammengestellt wurde.
Dass das Brahmssche Requiem weder in liturgischer Bindung noch in kirchlichem Auftrag entstanden war, macht es umso mehr zu einem Werk der religiösen Selbstaussage des Komponisten. Nicht von ungefähr schrieb ihm die Pianistin und Komponistin Clara Schumann, nachdem sie die Partitur des Oratoriums von Brahms erhalten hatte: „Sagen muss ich Dir noch, dass ich ganz und gar erfüllt bin von Deinem Requiem, es ist ein ganz gewaltiges Stück, ergreift den ganzen Menschen in einer Weise wie wenig anderes. Der tiefe Ernst, vereint mit allem Zauber der Poesie, wirkt wunderbar, erschütternd und besänftigend. Ich kann’s, wie Du ja weißt, nie so recht in Worte fassen, aber ich empfinde den ganzen reichen Schatz dieses Werkes bis ins Innerste, und die Begeisterung, die aus jedem Stücke spricht, rührt mich tief, daher ich mich auch nicht enthalten kann es auszusprechen.“
Im Bukarester Athenäum waren es die Gesangssolisten Irina Iordăchescu und Ionuț Pascu, der vierstimmige, von Iosif Ion Prunner einstudierte Chor sowie das Orchester der Philharmonie „George Enescu“ unter der Leitung des deutschen Dirigenten Claus Peter Flor, die am rumänischen Karmittwoch das Brahmssche Oratorium zu einem bewegenden musikalischen Ereignis machten. Instrumentalisten, Vokalisten und Gesangssolisten trugen allesamt zur überwältigenden Wirkung der Brahmsschen Komposition bei, die vor allem durch ihre musikalische Gesamtarchitektur beeindruckt, welche bewusst auf solistische Bravourstücke, etwa auf Koloraturarien im Stile barocker Oratorien, verzichtet.
Der strenge architektonische Aufbau zeigt sich auch in der symmetrischen Gesamtstruktur des Werkes. Der erste und der letzte Satz des Oratoriums beginnen beide mit dem Wort „selig“, das auch das erste und das letzte gesungene Wort des Oratoriums ist. Der zentrale Mittel-satz zitiert das tröstende Psalmwort: „Wie lieblich sind Deine Wohnungen, Herr Zebaoth! Meine Seele verlanget und sehnet sich nach den Vorhöfen des Herrn; Mein Leib und Seele freuen sich in dem lebendigen Gott. Wohl denen, die in Deinem Hause wohnen, die loben Dich immerdar.“
Nicht nur die Ecksätze I und VII, sondern auch die Zwischensätze sind konzentrisch um den nukleischen Mittelsatz IV des Oratoriums herum angeordnet. So betont etwa Satz II die Vergänglichkeit allen Fleisches, Satz VI hingegen die Auferstehung und Verwandlung am Jüngsten Tag. In derselben Weise sind die Sätze III und V, die beide jeweils mit einem Gesangssolo beginnen, aufeinander bezogen. Während der Bariton mit einem Psalmwort den Abschied beschwört („Herr, lehre doch mich, dass es ein Ende mit mir haben muss“), bekräftigt der Sopran mit einem Jesuswort aus dem Johannes-Evangelium die Wiederkunft („Ihr habt nun Traurigkeit; aber ich will euch wiedersehen“).
Beeindruckend an der Bukarester Aufführung war vor allem die Dynamik, die vom Dirigenten bewusst ins Extreme gesteigert wurde. Kein Pianissimo war ihm, wie unablässig an seinen Gesten abzulesen war, leise genug, kein Fortissimo schien seiner Klangvorstellung zu genügen, und seine Crescendi schien er immer ins Unendliche fortführen zu wollen. Die von Johannes Brahms in sein „Deutsches Requiem“ hinein komponierten abrupten dynamischen Brüche – etwa vom kräftigsten Fortissimo ins zarteste Pianissimo – waren dadurch in der Bukarester Aufführung noch expressiver spürbar und noch dramatischer wahrzunehmen. Auch die Sprachgestaltung des Chors gehorchte dieser Logik des Expressiven: gewaltig, wie etwa das Wort „Leid“ im ersten Satz des Oratoriums sprachmusikalisch gestaltet wurde, und überwältigend, wie Zisch- und Flüsterlaute den gesanglichen Ausdruck begleiteten. Wunderbar auch das Zusammenwirken des Chors mit dem Orchester und mit den Gesangssolisten, die sich unter dem Dirigat von Claus Peter Flor vollendet in das musikalische Gesamtgeschehen einfügten.
Dass das Brahmssche Oratorium am rumänischen Karmittwoch dann doch zu einem Requiem im tiefen Sinne des Wortes wurde, war einem traurigen Anlass geschuldet. Tags zuvor war der Konzertmeister und Stimmführer der Ersten Violinen der Philharmonie „George Enescu“, Dan Enășescu, unerwartet verstorben. Der Generaldirektor der Philharmonie „George Enescu“, Andrei-Radu Dimitriu, ehrte den Verstorbenen vor dem Erklingen des Brahmsschen Requiems mit einer Ansprache, das anwesende Publikum gedachte seiner mit einer Schweigeminute, und Chor und Orchester der Philharmonie würdigten ihren verstorbenen Kollegen mit einer tief empfundenen Trauermusik. Ein leerer Stuhl auf der Bühne in der Stimmgruppe der Ersten Geigen und ein Blumenbukett erinnerten während der gesamten Dauer des Brahmsschen Requiems an den Violinisten Dan Enășescu, der 46 Jahre lang als geschätztes und bewundertes Mitglied des Sinfonieorchesters der Philharmonie „George Enescu“ auf der Bühne des Bukarester Athenäums musikalisch gewirkt hatte.