Obwohl Bulgarien seit 2004 NATO- und seit 2007 EU-Mitglied ist, wird das Land publizistisch im deutschsprachigen Raum immer noch etwas stiefmütterlich behandelt. Das mag auch daran liegen, dass dort – anders als etwa in Rumänien – weder spannungsreich Ost- und Westkirche aufeinanderprallen, noch eine in Geschichte und Gegenwart bedeutende deutsche Minderheit lebt, die die Aufmerksamkeit auf sich zieht. So gab es schon lange keine aktuelle Landeskunde mehr, die vor allem auch das 20. Jahrhundert angemessen berücksichtigt hätte.
Das vorliegende exzellent konzipierte Handbuch schafft nun Abhilfe und bietet eine facettenreiche Darstellung Bulgariens in Geschichte und Gegenwart. Die rund 20 Beiträge bereiten alle Themen von Geschichte und Geographie über Politik und Kultur, Sprache und Literatur bis hin zu Gesellschaft, Rechtswesen und religiöser Landschaft detailliert wie konzentriert auf.
Herausgeber Thede Kahl selbst entfaltet zunächst eine grundlegende geographische und (kultur)geschichtliche Einführung. Bereits diese Studie markiert prägende historische Phasen, Umbrüche und Persönlichkeiten. Dazu zählen das erste bzw. zweite Bulgarische Großreich (681-1018; 1185-1393), die Erhebung des Christentums zur Staatsreligion mit der Taufe von Zar Boris I. 864, das Wirken der „Slawenapostel“ Kyrill und Method, die osmanische Eroberung und Fremdherrschaft bis 1878, die „Nationale Wiedergeburt“ im 19. Jahrhundert, die Phase des Sozialismus nach 1944 sowie die Wende 1989 bis zur anschließenden Mitgliedschaft in EU und NATO.
Drei philologische Studien widmen sich der Sprachentwicklung Bulgariens. Herausgeberin Gergana Börger behandelt die Entwicklung der bulgarischen Schriftsprache, Barbara Kunzmann-Müller die Dynamik des Wortschatzes in Vergangenheit und Gegenwart, Corinna Leschber schließlich die aktuelle Situation der Minderheitensprachen im Land, wobei sie gleichzeitig die Minderheiten kurz vorstellt.
Zwei Studien widmen sich der bulgarischen Literatur bis zum 18. Jahrhundert (Maria Schnitter/Heinz Miklas) sowie der modernen Literatur, wenn auch dieser Aufsatz von Boris Minkov leider keinen systematischen Überblick bietet. Helmut Schaller wiederum zeichnet die Rezeption der bulgarischen Literatur im deutschen Sprachraum nach, die auch vom politischen Kontext abhing – bis hin zu differierenden Wahrnehmungen in der BRD und der DDR. Schnitter und Miklas betonen die besondere Rolle des Werks von Kyrill und Method als „von fundamentaler Bedeutung für die literarische Entwicklung der gesamten Slavia Orthodoxia. Sicherte ihren Angehörigen doch die Schaffung eines ersten slawischen Schriftsystems und die Übertragung der heiligen Bücher den Zugang zur christlichen Kultur.“ (S. 138)
Es sind vor allem liturgische, hymnologische, hagiographische, asketisch-hesychastische sowie erbauliche Schriften, die hier entstehen, wobei auch lokale Anachoreten-Traditionen Westbulgariens eine große Rolle spielen. Es wird – wie in anderen Beiträgen auch – deutlich, wie linear sich einerseits die bulgarische Literatur und Kultur aus dem christlichen Kultus mit seiner Schriftsprache und Liturgie entwickelt hat und wie sehr andererseits die osmanische Fremdherrschaft über fünf Jahrhunderte die politische und kulturelle Entwicklung durch Diskriminierung des Christentums bis zum Verbot des Kirchenbaus hemmte.
Unter „Kultur“ kommen Beiträge zur „Folklore“ (Gabriella Schubert), zu Theater und Drama (Walter Puchner) und zur Architektur und Bildenden Kunst (Emil Ivanov) zu stehen, wobei der exzellente und mit vielen Beispielen gewürzte Beitrag Schuberts treffender mit „Volksliteratur“ betitelt wäre, geht es doch darin vor allem um orale Volkskunst: Volkslieder, Sprichwörter, Heldenepik und Legenden, Volksmärchen und Schwänke, Anekdoten und den (Ost-block)Witz im Kommunismus sowie gegenwärtige Formen des Erzählens.
Auch die Beiträge des abschließenden Abschnitts „Politik und Gesellschaft“ liefern wertvolle Darstellungen. Plamen Penev und Dejan Dunavski zeigen die Rolle Bulgariens auf der internationalen politischen Bühne von der kommunistischen Machtergreifung 1944 bis 2016. Sie illustrieren die enge politische, militärische und wirtschaftliche Allianz zwischen der UdSSR und ihrem treuesten Verbündeten Bulgarien und auch die außenpolitischen Beziehungen zu den wichtigsten westlichen Staaten jener Zeit. Die Autoren verorten diese Loyalität zu Russland historisch in der anhaltenden Dankbarkeit für die Erlangung der staatlichen Unabhängigkeit 1878. Hier zeigen sich doch deutliche Unterschiede zu Rumänien, dessen nationalkommunistischer Kurs in deutliche Opposition zu Moskau führte und zur Weigerung Ceau{escus, an der Niederschlagung des Prager Frühlings mitzuwirken.
Nach der Wende von 1989 stellten sich die politischen Peilsender dann in Richtung Westbindung, wobei diese seit 1990 immer im Spagat zwischen pro-westlicher und pro-russischer Außenpolitik erkämpft werden musste. Bulgarien verabschiedete sich sogar offiziell von seiner vor allem gegen die Türken gerichteten minderheitenfeindlichen Politik bis zu zwangsweisen Namensänderungen, die zur Auswanderung von rund 300.000 Türken in die Türkei geführt hatte. Immerhin wurde die neue Vasallentreue nun gegenüber dem Westen etwa beim NATO-Bombardement auf Serbien 1999 mit dem NATO- und EU-Beitritt 2004 bzw. 2007 belohnt. Beide ziehen das ernüchternde Fazit: „Trotz EU-Geldern und immer neuer Monitoringberichte seitens der EU-Kommission gilt Bulgarien immer noch als Armenhaus der EU, dem soziale Gerechtigkeit, Ökologie, eine offene Demokratie und aktive Zivilgesellschaft fremd sind.“ (S. 316)
Peter Bachmaier zeichnet die bulgarische Kultur- und Bildungspolitik von 1989 bis 2015 nach, die vor allem zu einem Diktat des Marktes über die Kultur bis hin zur Orientierung der Bildung an den Interessen der Wirtschaft und zur Schließung „unrentabler“ Schulen auf dem Land führte. Solche Fehlentwicklungen bei Kultur und Bildung, die auch im Westen aus guten Gründen moniert werden, hält man in (Süd)Osteuropa fälschlicherweise oft für westlich, verbunden mit einer Totalabkehr von der eigenen autochthonen Kultur.
Natürlich hat der umstrittene Finanzspekulant und Milliardär George Soros auch in Bulgarien eine Filiale seiner „Open Society Foundation“ und eine Privatuniversität gegründet, um Personal für Führungspositionen im Sinne der neuen – nun neoliberalen – Ideologie heranzuziehen. Das Ergebnis des staatlichen Rückzugs aus der Kulturförderung ist klar: „Opernhäuser, Philharmonien und andere Musikinstitutionen wurden in kurzer Zeit fusioniert oder geschlossen. (…) Bulgarien gibt von allen EU-Ländern am wenigsten für die Kultur aus.“ (S. 333 f.)
Drei weitere ausgezeichnete Beiträge beschäftigen sich mit der religiösen Landschaft Bulgariens. Herausgeberin Sigrun Comati stellt die Bulgarische Orthodoxe Kirche vor, die deutlich gegen die Auslieferung von Juden an das Nazi-Regime aufgetreten ist und der heute 83,5 Prozent der Bevölkerung angehören, während 1,7 Prozent zur Katholischen Kirche zählen und etwa 13 Prozent Muslime sind. Svetoslava Toncheva stellt in zwei Beiträgen den mehrheitlich sunnitischen Islam in Bulgarien sowie neue religiöse Bewegungen vor bis hin zur Wahrsagerin Vanga, deren Wirken im Kommunismus nicht behindert wurde und sogar zur Gründung eines „Instituts für Suggestologie“ an der Bulgarischen Akademie der Wissenschaften führte.
Emilia Drumeva, Stefan Stefanov, Radoslava Yankulova und Mladen Mladenov zeigen schließlich in ihrem Aufsatz „Recht und Verfassung“ die bulgarische Rechtsentwicklung von der ersten Verfassung 1879 bis zur heutigen von 1991. Sie erläutern den aktuellen Status und die Strukturen des bulgarischen Rechtswesens und dessen Rechtsphilosophie und zeigen auch den Einfluss der EU-Rechtsordnung seit 1990.
Der Schriftsteller Roda Roda leitete 1918 einen Sammelband zu Bulgarien mit den Worten ein: „Ich meine, mit dieser Sammlung bulgarischer Erzeugnisse einen Fensterladen aufgestoßen zu haben“ zu einem „Ausblick ins Rosenland“ (zit. bei Schaller, S. 182). Keine Frage: Dieses mehr als gelungene Handbuch eröffnet heute einen weiten Blick ins benachbarte „Rosenland“ Bulgarien.