Als eine Ikone der Malerei zwischen Symbolismus und Neuer Sachlichkeit wird sie in-zwischen schon betrachtet – Oskar Zwintschers „Dame mit Zigarette“ (1904): Lässig sitzt eine junge Frau im Reformkleid – nur Kopf und Hände heben sich aus dem Dunkel des Bildes hervor –, die Hände über Arm und Knie geschlagen und hält in der einen Hand eine glimmende Zigarette. Ihr Blick ist nach innen oder in eine unbestimmbare Ferne gerichtet. Ein ungewöhnliches, ein kühnes Bild im Fin de Siècle, ein Bild der Emanzipation besonderer Art, eine selbstbewusste Frau, unnahbar, der alle gesellschaftlichen Konventionen egal sind, die ihr Leben so lebt, wie sie es will.
Der Bestand Dresdner Kunst um die Jahrhundertwende im Albertinum ist uns seit Langem wohlvertraut. Doch nun hat es in den letzten Jahren umfangreiche maltechnische Untersuchungen an 16 Gemälden Zwintschers gegeben, viele Neuerwerbungen haben den Zwintscher-Bestand erweitert, im vergangenen Jahr kam auch eine Bestandspublikation „O. Zwintscher im Albertinum“ heraus – und nunmehr konnte, verstärkt durch viele Leihgaben, eine opulente monographische Ausstellung und ein Katalog, neueste Forschungs- und Untersuchungsergebnisse präsentierend, vorgelegt werden, die Zwintscher in einer neuen Sicht zeigen. Er wird nicht nur zusammen mit seinen Dresdner Künstlerkollegen in die damalige Zeit eingebettet, sondern in Beziehung gesetzt zu den großen Malern und Malerinnen wie Arnold Böcklin, Max Klinger, Ferdinand Hodler, Franz von Stuck, Gustav Klimt, Heinrich Vogeler und Paula Modersohn-Becker. Und er kann, was die inhaltliche Tiefe und malerische Qualität seiner Bilder anlangt, durch-aus mithalten mit den bewunderten Großen dieser Zeit.
Zwintscher hatte sich nach seinem Studium an der Kunstakademie Dresden für seine beschauliche Heimatstadt Meißen entschieden und bewohnte dort nicht zufällig das Haus, in dem Ludwig Richter gelebt und gewirkt hat. 1897 malte er das programmatische Diptychon, das seiner Begegnung mit dem ihn inspirierenden, aber auch drohenden Tod („Selbstbildnis mit Tod“) das Bild der Braut inmitten einer blühenden Landschaft entgegensetzte. In den Kreislauf der sich erneuernden Natur ist die Frau eingesetzt, während der in den städtischen Raum gestellte Künstler – der Tod hat ihm mahnend das Stundenglas unter die Augen gestellt – mit seinem Werk den Kampf mit der Zeit bestehen muss.
Zwintscher, der 1904 zum Professor an der Dresdner Akademie berufen wurde, aber schon 1916 starb, vereinigt alle Strömungen seiner Zeit, er steht zwischen Impressionismus, Symbolismus und Jugendstil und weist schon voraus in die Neue Sachlichkeit. Sein Werk bildet die Brücke zwischen Tradition und Modernität. Indem er die von den Impressionisten so sehr bewunderte Ursprünglichkeit der Landschaft auslotete, deutete er sie in symbolistischer Weise, wobei er naturalistische Effekte mit den rhythmischen Mustern des zeitgenössischen Jugendstils verknüpfte. Mythologie spielt bei Zwintscher keine Rolle, er war realitätsbewußt. Aber einer vollständigen ikonographischen Ausdeutung widersetzen sich seine Bilder. Sie erzählen keine Handlungen mehr oder geben allgemein verständliche Sinnbilder wieder, sondern in seinen Gestalten will der Künstler ein Stück Subjektivität und Individualität vermitteln. Dabei treten Emotionen, Stimmungen und Ahnungen in den Kreis des Darstellbaren. Scheinbar Bekanntes deutet Zwintscher neu aus – und auch der Betrachter muss sich auf neue Sehweisen einlassen.
Wie kann der Symbolismus im Bild die Gefühle und Vorstellungen wiedergeben, die die nur subjektiv erlebbare Musik erzeugt? Durch freie Assoziation, durch eine Gleichzeitigkeit von Bedeutungen. Mit dem Gemälde einer dem Ton der Geige eines träumerisch jungen Mannes lauschenden, unbekleideten jungen Frau („Die Melodie“, 1903) sucht Zwintscher den Zustand sinnlicher Ergriffenheit optisch spürbar werden zu lassen. Eine Personifikation des Traumes oder der Nacht gibt den entschwebenden Tönen des Geigers Gestalt und symbolisiert das Verrinnen der Zeit, den Wechsel von Tag und Nacht, von Leben und Traum.
Ob „Frühlingslandschaft“ (um 1895), „Der Sommertag“ (1896) oder „O Wandern, O Wandern!“ (1903), der Künstler sucht momenthafte Stimmungen und Lichtsituationen in seinen landschaftlichen Empfindungsräumen einzufangen. Es geht Zwintscher weniger um genauere Schilderungen der gesehenen Orte als um Umsetzungen seiner ästhetischen Vorstellungen mit einer Tendenz zu einer ornamentalen, abstrahierenden Formauflösung.
Als anerkannter Porträtist schuf er eine Vielzahl geschätzter Bildnisse, wie das seines Dresdner Malerkollegen Sascha Schneider (1899), das dessen physiognomisch ungewöhnliche Eigenheiten betont, oder das des Worpsweder Künstlerkollegen Heinrich Vogeler (1902), den er zum visionären Außenseiter stilisiert. Die Tapete mit Rosenmuster im Hintergrund geht auf einen Entwurf Vogelers für sein Worpsweder Wohnhaus zurück. Weniger das psychologische Profil als die typische Situation soll den Charakter der dargestellten Person enthüllen.
Insgesamt 15 Porträts hat Zwintscher von seiner Frau Adele geschaffen. Im Bildnis der „Gattin des Künstlers mit Spiegel“ von 1901 werden Profil- und Spiegelbild zu einem hintergründigen Rätsel. Es scheinen Gesichter zwei verschiedener Personen zu sein. Ein „symbolistisches Doppelporträt seiner Frau als unergründliches Mysterium“, heißt es im Katalog. Könnten es nicht einfach die „zwei Seelen in einer Brust“ sein? Aber wie die Symbolisten hat Zwintscher die Frau als Sinnbild für die Unergründlichkeit der menschlichen Natur angesehen. Doch nicht die Femme fatale, die sündige, begehrenswerte Frau, finden wir bei ihm, sondern ihr Gegenstück, die zerbrechliche Schönheit der Femme fragile. Seine Mädchen- und Frauengestalten – oft mit einer symbolhaften Blume in der Hand - scheinen in einer Bewegung innezuhalten, jedoch nicht in dem Bewusstsein zu posieren, sondern in stiller Anmut zu verharren. Dass sie sich dem Blickkontakt meist entziehen, erhöht den Eindruck unnahbarer Schönheit ätherischer Wesen.
Man hat Zwintscher auch den „sächsischen Klimt“ genannt. Doch während Klimt seit dem „Porträt Emilie Flöge“ (1902), seinem ersten Damenporträt, in dem das Ornament Eigenwert erhielt, zunehmend Gesichter und Hände in seinen Frauenbildnissen körperlos von seinen eigenständigen Ornamentmosaiken trennte, bleiben bei Zwintscher die existenziellen Fragen im Kreislauf des Lebens erhalten. In seinem „Bildnis der Gattin“ (1902) steht sie in eleganter Abendrobe wie abschiednehmend an der Tür und ihr Blick zurück wirft Fragen auf. Die Virtuosität Zwintschers liegt auch in seinen letzten Jahren gerade in der Einbindung seiner Figuren und Themen in den Bildraum, im Wechselspiel von linearer Kontur, flächiger Raumauffassung und gezielter Nutzung des Ornaments.
Der Dresdner Maler Zwintscher hat sich eingereiht in die Phalanx europäischer Maler.