Die Besucher stehen Schlange, bevor sie dann den in ein gedämpftes Licht getauchten, mit der Musik Smetanas und Dvorzaks untermalten riesigen Ausstellungsraum betreten: 20 großformatige Darstellungen zur Geschichte der Slawen bilden das „Slawische Epos“ von Alfons Mucha, dem berühmten Künstler des Jugendstils, bekannt vor allem durch seine Buchillustrationen und Plakatentwürfe. Dieser monumentale Gemäldezyklus, zweifellos Muchas Hauptwerk, entstand 1910 bis 1926 und war ein Geschenk des Künstlers an die Stadt Prag. Aber die Zeitläufte brachten es mit sich, dass der Zyklus lange im Renaissanceschloss des südmährischen Städtchens Moravsky Krumlov (Mährisch Kromlau) untergebracht war und nun nach einem langen Streit wieder nach Prag zurückkehren konnte. Nach Renovierung des Schlosses will man Muchas Bilder unbedingt wieder nach Südmähren zurückholen.
Mucha nimmt hier historische Schlüsselepisoden der slawischen Geschichte zum Anlass, um seine Vision der Menschheit auszudrücken. Er plante so etwas wie ein Pendant zu Richard Wagners „Ring des Nibelungen“. Doch während Wagner vollständig aus dem Bereich von selbst adaptierten germanischen Mythen und Sagen schöpft, hält sich Mucha wesentlich mehr an historische Szenarien. Er beriet sich über seine Vorstellungen mit Historikern und sagte 1928 nach Beendigung des Zyklus: „Ich habe in allen Bildern das vermieden, was an raue Streitigkeiten oder an bei Fehden vergossenes Blut erinnern könnte. Zweck meines Werks war niemals niederzureißen, sondern stets aufzubauen, Brücken zu schaffen, denn uns alle muss die Hoffnung nähren, dass die gesamte Menschheit sich näher kommt, was um so leichter geschehen wird, je besser sie sich gegenseitig kennenlernt“.
In den ersten Bildern („Die Slawen in ihrer Urheimat“, „Der Kult des Svantovit auf Rügen“, „Die Einführung der slawischen Liturgie im Großmährischen Reich“, „Die Verteidigung von Sziget gegen die Türken durch Mikulas Zrinsky“) lässt sich noch in starkem Maß der Einfluss von Muchas vorhergehender künstlerischer Periode erkennen. Sie sind mit ausgeprägtem Sinn für einen dekorativen Stil komponiert und vermengen mühelos die symbolische mit einer beschreibenden Darstellungsweise. Ihr Pathos entspricht den ursprünglichen Absichten Muchas und wirkt nicht fremd. Die Komposition „Die Schule der mährischen Brüder in Ivancice“, die zur gleichen Zeit entstand, weist bereits auf einen allmählichen Übergang zu einem illustrativeren Stil hin, der in den folgenden Bildern zu einer naturalistischen, akademisch-beschreibenden Art der Darstellung führte.
Eine Ausnahme bildet die Komposition „Jan Milic aus Kromeriz“, deren freiere Auffassung sich vielleicht Reminiszenzen des Malers an die Pariser Vergangenheit verdankt. Auf den letzten Leinwänden, die 1926 entstanden sind („Die Krönung des serbischen Königs Stepan Dusan zum oströmischen Kaiser“, „Der heilige Berg Athos“, „Der Schwur der Omladina unter der slawischen Linde“ und „Die Verherrlichung der slawischen Nationen“), gewinnt die symbolische Darstellungsweise wiederum die Oberhand, wobei diesmal jedoch, besonders auf den beiden letzten Bildern, ihr Pathos einer modernen Sensibilität ausgesprochen unangenehm wirkt. Das Abschlussbild ist eine Allegorie, die in vier symbolischen Farbzonen die mythische Vorzeit (blau), das ruhmvolle Mittelalter (rot), die Knechtschaft (schwarz) und die jubelnde Freiheit (gelb) der Slawen darstellen sollte.
Das Slawenepos ist in der eigenen Heimat mit gemischten Gefühlen aufgenommen worden. Kritiker sahen es in der Tradition der Darstellungen des Slawentums aus der Romantik im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts und damit nicht als zeitgemäß. Da Tschechien seit 1919 nicht mehr zu Österreich-Ungarn gehörte, stand das Nationalitätenproblem kaum mehr zur Debatte. Muchas Absicht war es, in den monumentalen Gemälden eine Botschaft an die Menschheit weiterzugeben. Es ging ihm dabei um das Streben nach allgemeinem Frieden und Nächstenliebe. Fünf Jahre vor der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten in Deutschland gewann der Zyklus so eine besondere Bedeutung.
Die Episoden, die Mucha auswählte, waren nicht nur historische Illustrationen, sondern auch bildnerische Meditationen über Themen von grundlegendem menschlichem Interesse. Die Wandgemälde beeindrucken nicht allein durch ihre ungewöhnlich großen Maße, sondern vor allem durch die Qualität ihrer Konzeption und Durchführung. Muchas Leistung liegt in der stilistischen Bewältigung von Realität und Allegorie, der Geschichte und ihrer symbolischen Bedeutung, des Menschen hier und jetzt und seiner Götter und Nachfahren in der Zukunft. Am Bemerkenswertesten ist die Verbindung von Historienmalerei und symbolischer Darstellung. Bereichert durch seine Auseinandersetzung mit der dekorativen Kunst der 1890er Jahre kehrte er zur Historienmalerei zurück.
Seine Lebensphilosophie war auf drei Pfeiler aufgebaut, die er auch selbst nennt: die Liebe, den Verstand und die Weisheit. Er determiniert und bezieht diese für ihn transzendenten Energien auf ein individuell interpretiertes, offenes Christentum mit zweifellos großen Sympathien für die tschechisch/hussitische Reformation, zumindest in deren von ihm selbstgeschaffenen Neuinterpretation, endet doch sein Epos in der „epochalen“ Achse: Gottesmutter Maria, matriarchale Urmutter Slavia und die Inkarnation Gottes als Mensch: Jesus Christus.
Aus Begeisterung für die historische Chance des verhältnismäßig kleinen tschechischen Volkes, welches nicht zuletzt durch die Verflechtung mit den großen geistigen Strömungen Europas zu einem der führenden Kulturvölker des Kontinents wurde, einen eigenen demokratischen Staat zu errichten, hat er eine allmenschliche Hoffnung artikuliert und ein Epos geschaffen, das noch einmal mit großem Optimismus an die positive Sendung des Menschen glaubt.
Das „Slawische Epos“ ragt in unsere Zeit, in der Europa wieder zusammenrückt, und verlangt nach Neubewertung.