Denkt man an die letzten hundert Jahre der deutschen Minderheit in Rumänien und wollte man versuchen, die Essenz mit einem einzigen Wort zusammenzufassen, so lautet dieses zweifellos: Exodus. Mit dieser griffigen Einführung stellt Aurora Fabritius die Autoren des Sammelbands „Un veac fr˛mântat. Germanii din România dup˛ 1918“ (Ein bewegtes Jahrhundert. Die Deutschen in Rumänien nach 1918) und die geladenen Gastredner vor: der Historiker Dr. Ottmar Trașcă und den Soziologen Dr. Remus Gabriel Anghel, die das wissenschaftliche Werk koordinierten, sowie den Historiker Dr. Cosmin Budeanc˛ und Bischofsvikar Dr. Daniel Zikeli. In dem am 27. Februar im Bukarester Kulturhaus „Friedrich Schiller“ vorgestellten Band wird erstmals die Geschichte der deutschen Minderheit interdisziplinär und im Gesamtzusammenhang vor prägenden historischen Ereignissen analysiert. Und mit zwei Mythen aufgeräumt, verrät Trașcă: dem des harmonischen Zusammenlebens mit der rumänischen Mehrheit - und dem, dass die Ursache des Exodus existenzielle Probleme im Kommunismus und nach der Wende gewesen wären.
„Dieses Buch ist eine Synthese, die bisher auf dem rumänischen Markt gefehlt hat“, motiviert Remus Anghel. Viele Dinge seien vor allem der breiten Bevölkerung nicht bewusst: Etwa, dass die letzten hundert Jahre vor allem für die Deutschen in Rumänien extrem turbulent waren. Die fast vollständige Auswanderung dieser einst so starken Minderheit ist Folge eines soziologischen Dramas, das mit den Umsiedlungen im Zweiten Weltkrieg („Heim ins Reich“, 1940) und der Deportation der ethnisch Deutschen (1945) in die UdSSR begann...
Doch warum sollte die Geschichte der deutschen Minderheit die Rumänen heute interessieren, wo sie doch durch den Exodus fast bis zum Exitus geschrumpft ist – von fast 800.000 vor dem Ersten Weltkrieg auf derzeit ca. 32.000? Zum einen, weil in Umfragen schon lange vor 2014 – als ein Vertreter dieser Minderheit, Klaus Johannis, zum Staatspräsidenten gewählt wurde – Sympathien zu erkennen waren: „Wer keinen Deutschen hat, muss sich einen kaufen“, illustriert ein rumänisches Sprichwort. Etwas „nemțește“, deutsch, zu machen, bedeutet, es gut und seriös zu erledigen. Zum anderen aber, weil die Entwicklung der deutschen Minderheit auch einen Spiegel darstellt: Er reflektiert, wie sich der rumänische Staat ihr gegenüber verhalten hat. „Viele sagen: Ihr hattet es gut. Ihr hattet Rechte. Doch das war nicht immer so“, stellt Ottmar Trașcă klar. „Man muss wissen, welche Rolle jede Minderheit in der Geschichte spielt.“
Über die interdisziplinäre Herangehensweise sei er anfangs skeptisch gewesen, bekennt der Historiker. Die Idee, soziologische und geschichtliche Forschung zu vereinen, stammt von Anghel. „Doch die Ergebnisse sind spektakulärer“, räumt Trașcă nachträglich ein.
Von der Vereinigung zum Dritten Reich
In zehn Kapiteln befassen sich renommierte Experten mit folgenden Aspekten: Vasile Ciobanu beleuchtet die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, von der Großen Vereinigung 1918 bis 1933. Die deutschen Gruppen mit unterschiedlichem Einwanderungshintergrund bildeten vor 1918 separate Gemeinschaften in verschiedenen Provinzen. Sie alle unterstützten aber die Idee der Vereinigung. Von da an gibt es erst die deutsche Minderheit, ab 1921 im Verein organisiert. Im ersten Jahrzehnt implizierte sie sich stark in Wirtschaft und Politik. Doch wuchs ihre Unzufriedenheit wegen der im Rahmen der Vereinigung garantierten, doch nicht erfüllten Versprechungen auf Rechte. Zunehmend isolierten sich die Deutschen von der rumänischen Gesellschaft, wenn auch öffentlich stets Loyalität mit dem Staat bekundet wurde. Die Wirtschaftskrise 1929-1933 und die zunehmende Nazifizierung Deutschlands schufen schließlich einen fruchtbaren Boden für das Aufkeimen des Nationalsozialismus...
Über die immer stärkere Annäherung an Nazi-Deutschland zwischen 1933 und 1940 berichtet Florian Kührer-Wielach. Die „Ära Andreas Schmidt“ und die Gründung der Deutschen Volksgruppe beleuchtet Ottmar Trașcă. Sie war bestimmt von der Vormachtstellung des Dritten Reichs auf dem gesamten europäischen Kontinent. Die Ernennung von Andreas Schmidt zum Führer der deutschen Minderheit Rumäniens (1940), die auf Intervention der Leitung des Dritten Reichs geschah, löste anfangs Befremden aus. Doch dank seiner Verbindungen zur SS-Leitung gelingt es dem 28-Jährigen, politisch Unerfahrenen, die Gruppe den Interessen Berlins völlig unterzuordnen. Die Beziehungen zwischen der deutschen Minderheit, der rumänischen Bevölkerung und dem Staat erreichen maximale Spannung. Intern reiben sich die Mitglieder der Gruppe an den widersprüchlichen Interessen auf. „Bewusst oder nicht wurden sie Hauptdarsteller dramatischer Ereignisse, die sie nicht beeinflussen, geschweige denn kontrollieren konnten“, schreibt Trașcă.
Kollektive Bestrafung
Über Deportation, Enteignung und Diskriminierung in den Jahren 1944 bis 1948 berichtet Hannelore Baier. Die Deportation der ethnisch Deutschen aus Rumänien in die UdSSR und die Enteignung der Landbevölkerung, die oft Formen von Raub und Missbrauch annahm, verankerte im kollektiven Gedächtnis der Rumäniendeutschen die Überzeugung, Opfer ungerechter Bestrafung zu sein. Mehrere rumänische Persönlicheiten wiesen die Regierung auf diese Ungerechtigkeit hin. Dass es ein Fehler war, 300.000 bis 400.000 ethnisch Deutsche undifferenziert zu bestrafen und Kolonisten in ihre Häuser einzuquartieren, wird 1948 vom Politiker Vasile Luca eingeräumt. Und auch, dass diese Maßnahmen Arm wie Reich gleichermaßen trafen und damit – entgegen dem kommunistischen Interesse – bewirkten, dass sich die deutsche Minderheit über soziale Grenzen hinweg nur noch stärker zusammenschloss.
Paradox sei, dass letztere den stalinistischen Terror der 1950er Jahre beinahe als Lageverbesserung empfand: Die Deportierten kehrten heim, für die enteigneten Bauern fand sich eine Lösung, in ihrem Heimatdorf zu überleben, junge Leute erhielten Arbeitsplätze am Bau oder in Fabriken nahe ihres Wohnorts. Die Verstaatlichung der Unternehmen betraf verhältnismäßig nicht mehr viele Deutsche.
Die Lage der Deutschen im frühen Kommunismus (1945 bis 1960) analysiert Laura Gheorghiu: Nach 1945 führten Deportation, Arbeitslager, Enteignung, Entzug von Bürgerrechten sowie Einschränkungen der Möglichkeit, in der Muttersprache zu lernen und zu studieren oder kulturelle Aktivitäten zu pflegen, zu einem anhaltenden Gefühl von Angst und Unsicherheit. Obwohl nach 1950 eine relative Öffnung stattfand, wie auch sie einräumt: deutsche Zeitungen, Kulturinstitutionen, Theater und Schulen waren wieder erlaubt. Doch die Agrarreform von 1945 hatte die wirtschaftliche Basis der Deutschen in den Dörfern zerstört. Die Industriegesellschaft mit Arbeitsplätzen in ethnisch gemischtem Umfeld und Städten fern des Heimatorts trugen zu ihrer Entwurzelung und Entfernung vom traditionellen Gemeinschaftsleben bei.
Nach 1964 bessert sich die Lage: Ein reichhaltiges Kulturleben in deutscher Sprache entwickelt sich, deutsche Publikationen, deutsches Fernsehen, Pflege von Bräuchen und Veranstaltungen in der Muttersprache sind wieder möglich, bis das Ceau{escu-Regime in den 70ern erneut die Riemen anzieht.
Die Transformation der evangelischen Kirche
Die Transformation der Evangelischen Kirche A. B. (EKR) ab 1918 wird in einem komplexen Kapitel von Ulrich Hans Wien behandelt. Interessante Elemente:
- Einheit von Kirche und Schule: Bis 1929 war die EKR in Siebenbürgen Garant für die Erhaltung der sächsischen Identität; die Einheit von Kirche und Schule galt als Grundpfeiler.
- Multiethnische Kirche: Die meisten religiösen Gemeinschaften Siebenbürgens waren ethnisch und sprachlich homogen. Schwierigkeiten gab es , wo dies nicht der Fall war, etwa zwischen Sachsen und Landlern in Neppendorf (1920) oder zwischen Ungarn und Sachsen in Klausenburg/Cluj-Napoca (1918-1924) , Mühlbach/Sebeș, Sommerburg/Jimbor oder Kleinkopisch/Copșa Mică (1971), die zu Abspaltungen führten. Trotzdem erlangte die EKR zeitweise das Profil einer multiethnischen Kirche: Zu ihr gehörten nach dem Ersten Weltkrieg bis 1927 ungarische Gemeinden im Burzenland, bis 1949 slowakische Gemeinden im Dekanat Nădlac oder ca. 3000 Roma in Nordsiebenbürgen, bis die meisten 1945 zur orthodoxen Kirche übertraten; heute existiert noch eine kleine Glaubensgemeinschaft in Weilau/Uila.
- Kirche und Nazismus: Ein Unterkapitel befasst sich mit der Radikalisierung der EKR in sechs Phasen , die von Konflikten, Kontroversen und den Beziehungen zu Nazi-Vertretern in Siebenbürgen geprägt sind.
- Kirche und Kommunismus: In den 1970er Jahren spitzte sich die feindselige Haltung des Regimes gegenüber der Kirche zu. Religiöse Aktivitäten wurden überwacht, Pfarrer beschattet, die Kirchenstruktur von der Securitate infiltriert. Die christliche Lehre galt als überholtes Relikt eines ungeliebten Großbürgertums im Vergleich zum „glorreichen Sozialismus“. Anfang der 70er Jahre gab es in der EKR immerhin 170 Pfarrer und 190.000 Mitglieder, zur Wende Ende 1989 noch 120 Pfarrer und 102.000 Mitglieder.
„Für die Siebenbürger Sachsen war die evangelische Kirche Teil ihrer genetischen Struktur, bis nach dem Zweiten Weltkrieg Sozialismus und Atheismus zu einer signifikanten Veränderung beitrugen“, bestätigt Daniel Zikeli. In der Diskussion thematisiert wird auch die Rolle der EKR bei der Auswanderung. „Die Kirche wandert nicht aus“, hieß es. Bereits 1961 hatte die EKR das evangelische Kirchenkonzil in Deutschland ersucht, aus Rumänien ausgewanderte Pfarrer nicht einzustellen, um die Emigration nicht weiter anzuheizen.
In den letzten vier Kapiteln werden Spezialthemen vertieft: sozialökonomische Veränderungen innerhalb der deutschen Minderheit im kommunistischen Regime (Rudolf Poledna), der Freikauf der Deutschen durch die Bundesrepublik (Claudiu Mihail Florian), Emigrationswellen zwischen 1944 und 1993 (Remus Anghel, Laura Gheorghiu) und transnationale Mobilität (Ovidiu Oltean).
Leitmotiv des Exodus: Familienzusammenführung
In der anschließenden Diskussion wurden die komplexen Ursachen der in mehreren Wellen erfolgten Auswanderung vertieft. Ursprünglicher Auslöser: der anhaltende territoriale Kon-flikt zwischen Deutschland und Russland, erklärt Ottmar Trașcă. Dieser führte zu den Umsiedlungen der Bessarabien-, Bukowina- und Dobrudschadeutschen sowie dem Rückzug der Deutschen aus Nordsiebenbürgen und dem Banat mit den Soldaten der Wehrmacht – aus Angst vor Sanktionen durch die vorrückenden Russen. Dies wiederum führte zum Leitmotiv der späteren Auswanderungswellen: Familienzusammenführung.
Eine Rolle spielten aber auch Faktoren wie die im kollektiven Bewusstsein verankerte Unsicherheit; die Politik des deutschen Staats, Verantwortung für Heimatvertriebene und Auslandsdeutsche zu übernehmen, die im Freikauf kulminierte; frühere Auswanderer, die zu Besuch zurückkehrten und Wohlstand demonstrierten; und nach der Wende die Angst, allein im Dorf zurückzubleiben, nachdem Lehrer und Pfarrer ausgewandert waren – „ein wichtiges Signal für die Gemeinschaft, das einen Schneeballeffekt zur Folge hatte“, erläutert Budeancă. Auch Gemeinschaftssinn mag eine Rolle gespielt haben: Zikeli erzählt, wie man sich in Arkeden/Archita geschlossen für die Auswanderung entschied. Mit einem abschließenden Gottesdienst, bei dem die Kirche wie zur Totenfeier schwarz dekoriert wurde, wurde dies besiegelt – „und am nächsten Tag waren alle weg“. Klargestellt wurde auch, dass der Freikauf der Deutschen aus Rumänien auf Lobbyarbeit der Landsmannschaften hin erfolgte und nicht als politische Initiative der BRD „von oben“.
Das Ausmaß der Emigration relativieren die Forscher durch die Vielzahl der zwar offiziell Ausgewanderten, die aus Rumänien jedoch nicht verschwunden sind: „Sommersachsen“, gemischte Familien, die hier und dort ein Standbein haben, Rückkehrer nach der Rente oder solche, die sich beruflich hier etwas Neues aufbauten und sich oft auch für die Gemeinschaft engagieren. Die zurückgelassene Infrastruktur – Schulen, Kirchen, Vereine, Kulturerbe – wurde teils von Rumänen angenommen und gemeinsam weitergepflegt. So bleiben trotz des physischen Schwunds der Minderheit deutschsprachige Nuklei erhalten, die manchmal als Kondensationspunkte für Einwanderer und Investitoren aus dem deutschen Sprachraum fungieren. Hoffnung besteht, dass der Exodus der deutschen Minderheit nicht zu ihrem Exitus führt.
Warum das Buch gerade jetzt wichtig ist
Ovidiu Ganț, der Abgeordnete des Demokratischen Forums der Deutschen in Rumänien (DFDR), lobt das Gemeinschaftswerk der rumänischen Forscher ausdrücklich als bedeutsam. „Dass es nicht aus den eigenen Reihen der deutschen Minderheit kommt, trägt zu seiner Glaubwürdigkeit bei.“ Auch im Hinblick auf die Angriffe in der letzten Zeit (gemeint sind die verleumderischen Behauptungen verschiedener PSD-Politiker, das DFDR sei Nachfolger einer Nazi-Organsiation) sei es wichtig, dass die rumänische Öffentlichkeit versteht, was mit der deutschen Minderheit geschah.
Das Buch soll auch andere Wissenschaftler herausfordern, hofft Ottmar Trașcă. Vieles sei noch unerforscht: „Zum Beispiel die Frage, warum Rumänien im Gegensatz zu anderen kommunistischen Ländern seine Deutschen nicht vertrieben hat.“ Ein Teil der Antwort läge in russischen Archiven, der Zugang sei jedoch problematisch. „Oder über die Rolle der Geheimdienste“, fährt er fort. „Man sagt, viele Emigranten der 60er und 70er Jahre seien Agenten der Securitate gewesen. Archivforschungen scheinen diese Hypothese zu bestätigen.“
Die Traumata der letzten hundert Jahre – ihre Folgen kann die Forschung nicht rückgängig, doch vieles im Nachhinein verständlicher machen. Die deutsche Minderheit hat eine Transformation erlebt. Sie hat sich, was ihre Verortung in Rumänien betrifft, zahlenmäßig stark verringert. Doch ihr Kulturraum ist weiter geworden, schließt Ausgewanderte, neu hinzugekommene Einwanderer und „germanophile“ Rumänen ein. Exodus, ja – aber noch kein Exitus. Es geht weiter. Es bleibt spannend.