Darzustellen, was den Menschen wirklich ausmacht, ist nicht möglich, und dennoch gibt es unendlich viele Versuche in allen Künsten. Und rasch gelangen diese an die Grenzen der Ausdrucksformen und siedeln das betrübliche Unvermögen dann gar ins Göttliche an, also in Dimensionen, denen das Unerreichbare eigen ist. Die Ideenlandschaften der Bibel helfen nicht so recht und weisen doch die Richtung in der Vorstellung, der Mensch sei Ebenbild Gottes. Bild von etwas zu sein, was sich an sich der Erfassung entzieht, wie soll das gehen?
Die Ebenbild-These gibt dem Menschen etwas Göttliches. Männliche Menschen wollen dies rasch in einem bewunderten Gegenüber erkennen: nämlich in einer Frau. „Hoffnung, die sich verzögert, ängstigt das Herz, wenn aber kommt, was man begehrt, das ist ein Baum des Lebens.“ Diese Erkenntnis aus den Sprüchen Salomons (Spruch 13 Vers 12) intoniert sprachklar, dass wir immer auf dem Weg sind, getragen von „der Hoffnung, die sich verzögert“- eine Umschreibung für das Begehren - und von der Benennung des Ziels, zum Baum des Lebens zu gelangen und so zu Erkenntnis und Erfüllung.
Dieses Erreichen-Wollen ist keine Männerdomäne, sondern menschentypisch. Dennoch meint man zuweilen, die Sehnsuchtsmelodien seien in den Künsten vom männlichen Teil der Völker häufiger oder tiefer angestimmt worden. Eine Wahrnehmung, die der Wirklichkeit nicht standhält.
In der germanischen Mythenwelt spielten Frauengestalten eine beherrschende Rolle bei den Stammesgesellschaften; sie waren den Göttern näher, vermittelten zu ihnen oder waren selbst gottgleiche Geschöpfe. Die Nornen wurden als Schicksalsgöttinnen wahrgenommen, den römischen Parzen nahe, die Hölderlin poetisch beschwor. Urd, Verdani und Skuld waren die bestimmenden Kräfte. Aus Skuld entwickelte sich das Wort Schuld, welches das in der Zukunft liegende Schicksal mitumfasst. In den Märchen tauchen die Nornen als Feen auf, sie erfassten die Zeiten von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Das Feenhafte in Frauen zu erkennen zu wollen, kann also tief wurzeln, völlig zu erklären ist es indes nicht.
Drei Frauengestalten, die einladen, sich solchen Überlegungen zu nähern, kamen aus dem späten 19. Jahrhundert und prägten in ihrem Wirken bis weit ins kaum vergangene 20. Jahrhundert: Lou Andreas-Salomé, Alma Mahler und Rosie Gräfenberg.
Lou
Als Louise von Salomé wurde sie 1861 in Sankt Petersburg geboren und wandelte sich und Namen nach Heirat mit dem Orientalisten Friedrich Carl Andreas zu Lou Andreas-Salomé. Sie beherrschte die Männer wie wenige, eine Frau, die sich dem Ehemann sexuell verweigerte und Hingabe und Erfüllung eher im Geist und im seelischen Erwandern anderer suchte. Logik, Metaphysik und Erkenntnistheorie studierte sie und geriet in den Kreis um die Frauenrechtlerin Malwida von Meysenbug, kam so ins Gespräch mit dem Philosophen Paul Rée und dann auch mit Friedrich Nietzsche. Beide machten „der schönen Russin“ Heiratsanträge, die sie ablehnte. Sie war begabt und gebildet und besonders befähigt, mit Männern Freundschaften zu schließen, sofern sie Geist und Weltläufigkeit hatten. Richard Dehmel, Gerhart Hauptmann, Erich Mühsam oder Frank Wedekind – die Liste ist lang. Und dann noch Rainer Maria Rilke, den sie dazu brachte, seinen Vornamen „René“ in „Rainer“ zu wandeln. Ihn lernte sie in München bei Jakob Wassermann kennen. Mit ihm machte sie 1899 und 1900 zwei Reisen durch Russland. Sie wurde Rilkes Muse, was in seinem „Stundenbuch“ nachklingt. Sie schrieb Texte, studierte sich sowie die Seelenwelten ihrer Gesprächspartner und kam dann fast wie von selbst zu dem Mann, der mehr von dem Seelenleben wusste: Sigmund Freud. Ihr 15 Jahre jüngerer Geliebter, der schwedische Nervenarzt Poul Bjerre, ein Freudianer, legte den Pfad zum Erfinder der Psychoanalyse. Sie wurde in Wien Freuds Schülerin und er inspirierte sie zu zahlreichen psychoanalytischen Texten in der Zeitschrift „Imago“. Durch Freud fand sie ihre Berufung als Therapeutin in der Psychologie. Sie starb 1937 in Göttingen, wo ihr Wirken mit dem „Lou- Andreas-Salomé-Institut für Psychoanalyse und Psychotherapie“ weiterlebt. Ihr erstes Buch hieß „Der Kampf um Gott“, ein Titel, der erkennen lässt, dass es ihr stets ums Außerirdische ging und um Männer, die dorthin auf dem Weg waren. „Ich bin in Erinnerungen treu. Menschen werde ich es niemals sein“, schrieb sie. Der Begriff Femme fatale entspricht ihrer Lebenskonzeption.
Alma
Alma Mahler hätte sich mit dieser Zuschreibung auch schmücken können, wenn es denn ein nobles Ästimieren ist. In Wien wurde sie 1879 in die kakanische Welt hineingeboren; ihr dramatisches Leben endete 85 Jahre später 1964 in New York. Sie war begabt an Geist und Seele (und hätte Komponistin werden können), war eine schöne Frau und befähigt zu lieben. Und das immer ersten Ranges. Männer zerbrachen fast an ihr. Gustav Mahler, der Weltensymphoniker aus Iglau, wurde ihr erster Mann, dann der Architekt Walter Gropius und schließlich Franz Werfel. Oskar Kokoschka, der wilde Maler, war so sehr auf seine zeitweilige Geliebte fixiert, dass er ihren Körper in einer lebensnahen Puppe nachbaute. Eine unglaublich große Zahl bedeutender Geister aus Kunst, Musik und Literatur suchte ihre Nähe, erst in Wien dann in den USA, von Berg, Bernstein, Britten, Ravel, Strauß, Strawinsky, Schönberg, Pfitzner, Korngold bis Zemlinsky, der ihr besonders nahe war (sein Werk lässt es erahnen) und dann die Dichter wie Hofmannsthal, Hauptmann, die Brüder Mann, Feuchtwanger oder Remarque: es blitzte und funkelte. Und sie setzte ihr ganzes Wesen dafür ein, dass sie inmitten dieser Personen stand. Selbstinszenierung als Lebensprinzip. Ihre Autobiographie „Mein Leben“ macht es deutlich. Diese sei voller Lügen, meinte der kundige Germanist Rüdiger Görner einmal, der durch seine imposante Kokoschka-Biographie auch den Alma-Spuren nachgegangen ist. Sie wollte eine schöpferische Muse sein oder die Seelenachse für Männer von Geist und Kunst. Die Alma-Bilder von Kokoschka sind hocherotisch bis schwül, besonders jenes, welches er „Windsbraut“ nannte, ein Tristan-und-Isolde-Bild. „Golden lodern die Feuer der Völker rings. Über schwärzliche Klippen stürzt todestrunken die erglühende Windsbraut“, dichtete Georg Trakl dazu. Auch Alma Mahler war für viele eine „Hoffnung, die sich verzögert“, eine nornenhafte Erscheinung, die beglückte und zur Verzweiflung brachte. Die Frau, ein Kunstwerk? Oder stets etwas Unerreichbares, fast Göttliches? Ganz erfassen kann man es nicht, wie alles was lebt und zudem dann, wenn man Geist als erotisches Phänomen erfasst.
Rosie
Zum Dreigestirn aufregender Frauen gehört auch Rosie Gräfenberg, in einigen Passagen ihres Lebens mit Lou Andreas-Salomé und Alma Mahler verwandt, obwohl sie sich wohl nicht kennengelernt haben. Hochbegabt und eine Schönheit auch sie, die als Rosa Goldschmidt 1898 in Mannheim geboren wurde und 1982 in New York verstarb. Sie wuchs in einem hochbürgerlichen Elternhaus auf, ihr Vater war Gründer des Mannheimer Bankhauses „Marx und Goldschmidt“. Dass sie aus einer jüdischen Familie kam, schreibt man eher schüchtern und mit Wehmut, denn solche Familien waren Ausdruck deutscher Bildungsbürgerlichkeit, die den deutschen Rassisten zum Opfer fiel und kaum wird zurückkehren können.
Claire Goll sagte mal von sich, sie habe Männer angezogen wie Mücken; in einem solchen Satz schimmert die Erkenntnis durch: ich hatte Macht. Und die geht ja auch von Schönheit aus, verstärkt durch Esprit, Charme und Bildung. Davon hatte Rosie Goldschmidt genug und die Fähigkeit zur Selbstinszenierung kam hinzu. Wer mit 36 Jahren meint, eine Autobiographie schreiben zu müssen, muss schon über ein imperiales Ego verfügen. Der Titel des 1934 in den USA erschienenen Buches „Prelude to the Past. The Autobiography of a Woman“ („Vorspiel zur Vergangenheit / Autobiographie. Rosie Gräfenberg-Ullstein-Gräfin Waldeck. Ein Leben“, Edition Memoria, Hürth 2022) sagte schon, dass hier jemand sein Leben als Roman versteht, als Generalstabskarte für weitere Zeiten. Die Amerikaner lasen diesen Lebensbericht aus dem alten Kontinent mit Begeisterung. Er endet mit dem Satz: „Man muss gesiegt haben, um zu wissen, dass man alles verloren hat.“ Er musste von der Hamburger Publizistin Katja Behling nicht übersetzt werden, denn das ist der einzige deutsche Satz in dem englisch verfassten Text. Sie hat das ganze Buch in ein rasantes Deutsch übertragen und stellt es so zum ersten Mal in der Muttersprache der späteren US-Amerikanerin mit den drei Namen vor. In einem luziden umfangreichen Nachwort leuchtet Katja Behling das übersetzte Leben aus, so als hätte es Rosie Goldschmidt-Gräfenberg-Ullstein, die später noch zu Rosa Gräfin von Waldeck avancierte, selbst geschrieben.
Wer sich vom Bericht dieser (Männer) fesselnden Frau einfangen lässt, erfährt viel von Geist, Bildungshorizont und Weltläufigkeit der deutschen Hochbürgerlichkeit inmitten von Europa der sog. Zwischenkriegszeit und zugleich vom Zauber einer Frau, die trotz Dauerverliebtseins und vieler Affären eher im Geist der Männer Erfüllung fand als im Bett. Schon mit 21 Jahren promovierte sie bei Alfred Weber mit einer soziologischen Arbeit zum Minderheitentheater. Beinahe wäre sie dem Wunsche des Vaters folgend ins Bankfach eingestiegen. In Berlin. Aber die Metropole der „roaring twenties“ lockte anders und führte zur ersten Ehe. Mit dem Top-Gynäkologen Ernst Gräfenberg, deutlich älter wie meist ihre Liebhaber, der in Berlin so sehr in seiner Praxis aufging, dass er nicht das große Haus, den weltoffenen Salon, führen konnte und wollte. Das enttäuschte seine junge Frau. 1090 Tage hielt diese Ehe. Dann ging sie nach Paris und wurde Journalistin, Reiseschriftstellerin und später Verfasserin von gut laufenden Romanen, die als rororo-Bände herauskamen. Sie reiste viel, mit Worten und auch per Schiff und Eisenbahn durch Europa, Nordafrika und China und gründete in Paris sogar eine eigene Presseagentur. Ihr Schreiben hatte einen feministischen Impetus. Ihre Texte waren faktenreich und analytisch und in Zeitungen und Gazetten gerne gelesen. Ein Schicksalsjahr war für sie 1929. Inzwischen war der mächtige Ullstein-Verlag in Berlin auf sie aufmerksam geworden. Sie lernte den verwitweten Chef des Konzerns Franz Ullstein kennen, er verliebte sich, machte ihr den Vorschlag zu heiraten und sie schlug ein. Oder zu? Er war über 30 Jahre älter. Und sie meinten sich wohl beide einverstanden, dass es für sie noch einen anderen gab, einen Geliebten (sie versteckte ihn unter der Chiffre „Kobra“; es war der Karrierediplomat Karl Ritter, der 1968 starb). Dessen Identität schützte sie sorgsam. Der Ullstein-Clan stand Kopf. Und es kam so wie oft: ein Kesseltreiben auf den Eindringling ging los mit Spionageverdächtigungen, staatsanwaltlichen Ermittlungen und Gerichtsauftritten: großes Kino. Am Ende dann 1930 die Scheidung mit üppiger Abfindung. Dass sie auch Jüdin war, spielte keine Rolle, dass sie jedoch aus dieser Herkunft heraus den aufkommenden Nationalsozialismus genau beobachtete und dass sie das dann auch zur Umsiedlung in die USA veranlasste und so auch in eine andere Sprache führte, zeigt ihren wachen Blick in ihre politische Gegenwart. Und so ist die Autobiographie nicht wegen der Amouren von Belang, sondern eher als ein Zeitzeugnis, als eine soziologische Studie, die gerade in Amerika, ein Jahr nach Hitlers Machtergreifung am 30. Januar 1933, mit Staunen und erstem Erschrecken zur Kenntnis genommen wurde. Dieses wurde noch größer, als 1942 ihr journalistisch wie analytisch beeindruckender Bericht „Athénée Palace / Hitlers `Neue Ordnung` kommt nach Rumänien“ (in deutscher Übersetzung im Pop Verlag, Ludwigsburg 2018) in den USA herauskam und ein Bestseller wurde.
Rosa Gräfenberg, die nach der Ehe mit Franz Ullstein den ungarischen Grafen Waldeck heiratete und als „R.G. Waldeck“ firmierte, ist eine funkelnde Frauengestalt, deren Leben wie jenes von Alma Mahler in New York endete und in manchem auch Lou Andreas-Salomé nahe scheint. Frauen mit Geist sind ja stets miteinander verschwistert. Und deshalb für Männer anziehend. Sie wissen es. Beide.