Die Publikation des Münchner Instituts für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas ist dieses Mal dem Thema „Freiraum und Eigen-Sinn“ gewidmet. Die Redaktion bezeichnet die Ausgabe im Editorial als „eine der buntesten unter den bislang erschienenen“ (S. 7) – nachvollziehbar, in Anbetracht der Ambiguität der titelgebenden Begriffe. Bereits in einem der ersten Beiträge wird auf die düstere Seite des Begriffes ‚Eigen-Sinn‘ verwiesen: Im Grimm-Märchen „Von einem eigensinnigen Kinde“ streckt sich der Arm eines Kindes, das von Gott aufgrund seiner Unfolgsamkeit mit dem Tod bestraft wurde, immer wieder aus dem Grab, bis ihn die Mutter mit der Rute schlägt. Daraus folgern Alexander Kluge und Oskar Negt: „Eigensinn ist keine natürliche Eigenschaft, sondern entsteht aus bitterer Not; er ist der auf einen Punkt zusammengezogene Protest gegen Enteignung“ (S. 25).
Tatsächlich werden in den Texten des Bandes vor allem Freiräume ausgelotet, die die Bewohnerinnen und Bewohner Mittel- und Osteuropas eigensinnig gegen Widerstände und Repression geschaffen haben. Dabei handelt es sich nicht unbedingt um Geschichten heroischen Widerstands – Eigensinn kann auch ein „Verhalten mit dem System“ (S. 22), ein Freiraum auch ein aus der Zeit gefallenes Kuriosum sein.
Im Beitrag von Krisztina Slachta geht es zunächst um ganz reale Räume – um Orte, aus denen Ungarndeutsche vertrieben wurden und die zu besuchen während des Kalten Krieges fast unmöglich war. Dennoch wurde aus diesem Grenzverkehr, quasi unfreiwillig subversiv, ein „Transferkanal von Kultur, Lebensstil und Alltagskultur zwischen Ost und West“ (S. 19). Dagegen offen subversiv, provokant und verunsichernd operiert die slowenische Formation „Laibach“, wodurch nicht nur Freiräume zur Interpretation eröffnet, sondern Rezipienten geradezu genötigt werden, das vielschichtige Netzwerk von Verweisen zu interpretieren. Johann Georg Lughofer geht der Frage nach, welche Rolle das Spiel mit der deutschen Sprache dabei einnimmt.
Răzvan Roșu wunderte sich als Kind über den Widerspruch zwischen den „abscheulichen Habsburgern“, von denen er in der Schule hörte, und dem „lieben Kaiser“ in den Geschichten seines Großvaters. Nun geht er in seinem Beitrag am Beispiel des Motzenlandes der Frage nach, durch welche räumlichen und politischen Konstellationen der Mythos vom ‚guten Kaiser‘ entstehen und sich so lange halten konnte.
Die weiteren wissenschaftlichen Beiträge handeln von der Bedeutung der Feuerwehr im Serbien während und nach dem Tito-Regime; von der Gegenöffentlichkeit, die durch Begegnungen deutscher und rumänischer Christen entstehen konnte; und von der Minimalprosa als „operatives Versteck“, das es deutschsprachigen Autoren im Rumänien der 1980er durch Verdichtung und Absurdität ermöglichte, sich einen Freiraum in der Sprache zu schaffen.
In der Rubrik „Projektwerkstatt“ stellt Christine Chiriac ein Forschungsprojekt zum Bild der deutschsprachigen Minderheit in rumänischen Geschichtsschulbüchern von 1910 bis 2013 vor. Spannend ist das insofern, als dass Schulbuchliteratur Aufschluss gibt über das Selbst- und Fremdverständnis einer Gesellschaft und darüber, wie dieses sich entwickelt – oder auch nicht, wie der Vergleich mit der Berichterstattung während der Präsidentschaftswahl von Klaus Johannis zeigt.
In der folgenden Rubrik werden Quellen vorgestellt: In „Jedem Wort auch Flügel geben“ erzählt Claus Stephani, wie er in den 1960ern die eigenwillige Kultur der Zipser in der Maramuresch kennenlernte und, davon fasziniert, diese zu dokumentieren begann und dabei in das Visier der Securitate geriet.
Eine weitere Quelle ist eine neue digitale Sammlung auf dem „Digitalen Forum Mittel- und Osteuropa“: 32 Zeitungen und elf Volkskalender aus den Jahren 1863–1940, insgesamt 85.000 Seiten, wurden digitalisiert. Besonders ist, dass auch zahlreiche Zeichnungen und Fotografien erfasst wurden. Die Datenbank ist abrufbar unter www.difmoe.eu.
Es folgen Rezensionen verschiedener wissenschaftlicher Neuerscheinungen, die Themen zu Südosteuropa oder Rumänien behandeln; ein ausführlicher Bericht zur Tagung „Die Schwarzmeerdeutschen“, die Dezember 2018 in Bad Kissingen stattfand, schließt daran an.
In der Rubrik Literatur findet der kunstsinnige Leser Auszüge, Kurzprosa und Lyrik von bekannten Autorinnen und Autoren wie Frieder Schuller, Felicitas Hoppe oder Richard Wagner, gefolgt von Illustrationen von Astrid Hodjak. Ebenfalls hier vertreten sind Gedichte von Nora Iuga, Trägerin des „Spiegelungen“-Preises für Lyrik, deren Laudatio von Joachim Wittstock sich im anschließenden Feuilleton findet. Dieses enthält außerdem ein literarisches „Autoportrait“ des ukrainischen Künstlers Oleg Lubkivskyj sowie eine Würdigung des Lebenswerkes von Gudrun Schuster anlässlich ihres 80. Geburtstages. Traurigerem Anlass sind die folgenden Nachrufe geschuldet, in welchen Leben und Werk der verstorbenen Persönlichkeiten Karl Beck, Taras Kijak, Dimitrie Vatamaniuc, Kurt Rein, Theo Stammen, Dieter Schlesak und Anton Beck geehrt werden.
Anschließend werden verschiedene Neuerscheinungen bzw. Übersetzungen empfohlen, darunter der Roman „Begegnung“ von Gabriela Adameșteanu und der neue Erzählband des bulgarischen Autors Georgi Gospodinov „8 Minuten und 19 Sekunden“. Als Sachbücher werden ein autobiografisch geprägter Band zu Lemberg und seiner Rolle bei der Entstehung des Völkerstrafrechts (Philippe Sands: „Rückkehr nach Lemberg“) und gleich zwei Biografien von Franz Josef I. vorgestellt. Abschließend sind Veranstaltungen, Neuerscheinungen und weitere das IKGS betreffende Informationen nachzulesen.
Resümierend lässt sich konstatieren, dass die Lektüre hält, was das Editorial verspricht: Es handelt sich tatsächlich um einen ‚bunten‘ Band, der, ohne den roten Faden zu verlieren, der geneigten Leserin durchwegs interessante Einblicke in verschiedene Themen bietet.