„Klug, liebevoll und mit sehr viel schwarzem Humor“ sei diese Geschichte eines siebenbürgischen Juden erzählt, verrät der Klappentext. Von einem „starrköpfigen Patriarchen“ und „unbedingten Familienzusammenhalt“ ist die Rede, und im ersten Anflug erinnert das an die amerikanische Tragikomödie von Wes Anderson „The Royal Tenenbaums“. Die Trennung der Eltern, der egoistische und verrückte Vater, die einst hochbegabten Kinder, die aufgrund dieser Situation Neurosen entwickeln und scheitern, das wird alles ins Groteske überzeichnet dargestellt. Nur hin und wieder gibt es einige subtile Anspielungen auf einen jüdischen Hintergrund, der aber nicht weiter dramatisiert wird. Genau hier bestehen die Unterschiede zur Geschichte von Otto und seinen Töchtern. Gleich im ersten Satz macht uns die Erzählerin Timna, die Lieblingstochter von Otto, in einem Wortspiel und einem Missverständnis klar, wo die Trennlinie verläuft. Tann, den sie zufällig im Krankenhaus trifft und der ihr zweiter Mann werden wird, kommt aus „Gäuboden“, für Timna der fruchtbare Boden, der einen Goj, d. h. „Nichtjuden“ nach dem anderen hervorbringt, und sie kommt aus Otto, d. h. dem Juden aus Siebenbürgen, nicht etwa aus der Mutter Ursula, die stammt aus der Reichskleinsiedlung München Freimann.
Vordergründig und als roter Faden, der sich durch das Buch windet, werden die letzten Tage des demenzkranken Otto, seine Krankenhaus- und Leidensgeschichte von Timna erzählt. Die bisweilen typischen Verhaltens-auffälligkeiten dementer Patienten, die Selbstüberschätzung, z. B. wenn Otto zum Entsetzen der Tochter Auto fährt, die Konzentration auf Körperfunktionen bei jeder unpassenden Gelegenheit, mischen sich mit tieferliegenden Ängsten. So hat Otto eine panische Angst, ins Heim zu müssen, denn dort lauern die alten Nazis, und er klammert sich in geradezu tyrannischer Weise an die Familie, denn „das weiß doch jeder…, dass die Christen nicht wüssten, was eine echte Familie sei“ ( S. 12). Eben deshalb fällt die Schilderung der schließlich engagierten Pflegerinnen Valli, einer Ungarin, und Ottla, einer Rumänin aus Bistritz, so zwiespältig aus, spiegeln sich hier doch Dankbarkeit, Eifersucht und schlechtes Gewissen der Töchter.
Erst halbwegs auf der Hälfte des Buches erfährt der Leser im Kapitel „Die schöne Bitte“ (S. 82) – ein Euphemismus – dass Timna eine Familiengeschichte schreiben soll, die sich zunächst sträubt und auch nur einwilligt, weil sie gerade ihren Job verloren hat, nicht zuletzt, weil sie sich so intensiv um Otto kümmert. Aber an den Erinnerungslücken, der Müdigkeit, vielleicht auch der unterbewussten Unwilligkeit von Otto scheitert ihr Unterfangen beinahe. Ohnehin sei dies „kein Epos von Suchen, Verlorengehen und Wiederfinden“ … „eher ein Klumpen Geschichten.“ … „ein Rattenkönig aus Geschichten, eine größere Anzahl räudiger Nagetiere, deren nackte Schwänze sich verheddert hatten und nun untrennbar miteinander verwachsen waren“ (S. 88). Verstreut in den einzelnen Kapiteln tauchen immer wieder Splitter aus der Vergangenheit auf. Die fernere Geschichte des „Otata“ (Siebenbürgisch für Großvater), der aus Galizien stammend über Wien schließlich in Kronstadt landet und dort zum vermögenden Industriellen aufsteigt. Das Elternhaus, die „kleine gelbe Villa“, die Otto vergeblich nach dem Zusammenbruch des Kommunismus versucht zurückzubekommen, ist auch für Timna, die nie in Rumänien oder gar Kronstadt gewesen ist, ein Sehnsuchtsort. Die Jugend des Vaters in Siebenbürgen, sein Verhältnis zu den Siebenbürger Sachsen – Kapitel fünf ist sogar mit „Das Siebenbürger Altherrenbataillon“ (S. 31) überschrieben, kommt sporadisch vor. So auch die Tatsache, dass in Kronstadt keine Deportationen stattfanden. „Wir sind davongekommen“ (S. 124). Nach dem Krieg kamen die vielen Flüchtlinge, die schlimmen Geschichten und schlechten Nachrichten und „Timna, du kannst dir das nicht vorstellen, das war ein See der Tränen in der Synagoge“ (S. 126). Die große Massenauswanderung, der Ausverkauf, fand, wie bei den Deutschen, erst nach dem Krieg unter kommunistischer Herrschaft statt. Die ganze Familie wandert nach Israel aus und landet in Haifa. Ein durchaus mühseliger Neustart.
Otto dient in der israelischen Armee in vier Kriegen, von denen er, wenn überhaupt, dann nur in Andeutungen erzählt, die traumatische Erlebnisse erahnen lassen. Aber nach 20 Jahren ist Schluss und, sehr zum Entsetzen der Verwandtschaft, verlässt Otto Israel, vor allem seine Frau Elisabeth, eine Siebenbürgerin, und geht zu den Nazis in das verhasste Deutschland. Später wird er sogar deutscher Staatsbürger (weil er die israelische Sozialversicherung nicht mehr zahlen will) – kein vorbildlicher Deutscher, wie Timna anmerkt, denn er versucht mit kleinen Regelverstößen, wie der Missachtung roter Ampeln oder der Steuerhinterziehung, seine Distanz zu wahren. Der laut Timna geniale Ingenieur, er unterrichtet später als Spezialist für Kunststoffe an der Hochschule in München, nimmt zunächst ein Angebot im Ruhrgebiet an. In Neuss begegnet ihm die Malerin Eva, Meisterschülerin des Ungarn Lajos Seböck, in die er sich verliebt. Lange nach ihrer Trennung konvertiert Eva zum Judentum. In München schließlich, trifft er in einem von Wiener Juden betriebenen Reisebüro Timnas Mutter Ursula. Und damit stoßen wir auf das eigentliche Familiendrama, das von Timna, der Schwester Babi, die eigentlich ganz anders heißt, und Reisele, der fernen Halbschwester aus einer früheren Beziehung der Mutter.
Denn in der Ehe der Eltern passt nichts zusammen: Wenn Otto geizig ist, ist Ursula verschwenderisch. Beide haben dafür tieferliegende Gründe. Die Vergeblichkeit in diesem deutsch-jüdischen Verhältnis so etwas wie „Normalität“ herzustellen, versucht Timna in vielen einzelnen Episoden zu belegen. Als Gegenpol zur eigenen Familie wird oft genug die deutsche „normale“ Zahnarztfamilie mit blonden Kindern, die ruhig und gesittet ihr Abendessen von Melaminbrettchen verzehren, aufgeführt. Die Tierliebe der Mutter, sei es nun zu Hund, Katze oder Ratten, samt vieler ekliger Angewohnheiten, geht dem Vater zunehmend auf die Nerven. Der dritte Hund Mickey, den sich Timna unbeirrt wünscht, wird zum Scheidungsgrund. Aber Tierliebe ist auch eines der Felder, wo das Leben in Deutschland und Israel gegeneinandergestellt wird. So wenn Timna bei einem Besuch von Tanns Mutter auf dem Land, dem Gäuboden, u. a. von „Wasserkätzchen“ (S.105) erzählt, d. h. wie man sich dort der überflüssigen Katzen entledigt. Kurz darauf schildert sie beiläufig, wie in Haifa, wo die Kinder ihre Sommerferien verbringen, unter den vermüllten Stelzenhäusern (bei Hochhäusern bleibt der unterste Stock unbebaut) die Bewohner jede noch so räudige Katze durchfüttern (S.106-108). Letztendlich schwebt über allem die Frage, die Otto, der mit Freunden eine Liste mit jüdischen Nobelpreisträgern seit 1901 führt, einmal eher scherzhaft formuliert: „Sag mir, ist es besser zum Volk der Täter oder zum Volk der Opfer zu gehören?“ (S. 194) Die Scheidung und Zerrissenheit der Familie bleibt nicht ohne Folgen: Schwester Babi, die mit mangelndem Ehrgeiz und ihrer Großzügigkeit jedem gegenüber es dem Vater nie recht macht und von ihm ständig kritisiert wird, muss nach einem Selbstmordversuch in eine psychiatrische Anstalt, derselben, in der die alkoholkranke Mutter bereits früher gelandet war. Reisele hingegen passt nicht zur Familie, denn sie ist erfolgreich meist in der weiten Welt unterwegs.
Häuser spiegeln die vertrackten Verhältnisse. In die mondän, mit monströsen Spiegeln und schwarzen Seidentapeten unpassend ausgestattete Penthouse-Wohnung im Olympiadorf (wo der Anschlag von 1972 stattfand, auch mit Hilfe von Neonazis, wie man heute weiß, aber das wird von der Autorin nicht erwähnt) ziehen sie auf Wunsch der Mutter. Später landen die geschiedenen Familien im gleichen Mietshaus, nur durch ein Stockwerk getrennt, und die Kinder verteilen ihre Wochentage auf diese beiden Wohnungen. Das letzte Domizil für Otto ist das geschichts- und gesichtslose Reihenhaus in Trudering, einem Neubauviertel von München, das eben deshalb von Otto geliebt und der Tochter gehasst wird. Sonst lauert oft genug die Nazivergangenheit. Nicht nur in den Vitrinen der geriatrischen Klinik, in die es Otto für einige Wochen verschlägt und wo man extra für die Demenzpatienten Illustrierte aus dem Jahr 1942 platziert. Die Vergangenheit von Otto, seine Erinnerungen kontrastieren mit denen von Timna. Wenn Otto sagt „Das Leben ist so schwer, wenn es aufhört und so schön, wenn es anfängt“ (S. 208), dann möchte sie ihm widersprechen und für den Leser tut sie es ja auch.
Dana von Suffrin hat für „Otto“ den Michael-Kühne-Preis für das beste Romandebüt erhalten.