Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, obwohl oft unbequem, ist nicht nur ein Rückblick, sondern eine Grundlage für das Zusammenleben, die Demokratie und die soziale Mobilisierung in Gegenwart und Zukunft. Doch wie funktioniert die Erinnerungskultur Jahrzehnte nach traumatischen Ereignissen, die die Geschichte radikal beeinflusst haben? In Rumänien hat das Bildungsministerium 35 Jahre nach dem Fall des kommunistischen Regimes die Einführung des Fachs „Geschichte des Kommunismus“ in den Schulen beschlossen, zwei Jahre nach der Einführung der „Geschichte der Juden und des Holocaust“ in der 11. und 12. Klasse.
Eine Gruppe von vier Masteranden der Universität Bukarest hat hierzu eine Fallstudie durchgeführt, um die Frage zu beantworten, wie Deutschland und Rumänien mit ihrer Vergangenheit umgehen. An dieser Studie haben Florin Cristescu, Geschichtslehrer am „Colegiul Național Grigore Moisil” in Bukarest mitgewirkt, sowie Schüler, die das Thema derzeit in rumänischen Schulen behandeln.
Rumänien: Nach 35 Jahren spät dran?
Ende des Jahres 2024, 35 Jahre nach der rumänischen Revolution von 1989, wird das Fach „Geschichte des Kommunismus“ in Rumänien beginnend mit dem Schuljahr 2025/2026 in der 12. bzw. 13. Klasse obligatorisch unterrichtet. Die Entscheidung kommt zwei Jahre nach der Einführung des Fachs „Geschichte des Holocaust“ in den staatlichen Schulen. Aus der Presseerklärung vom 16. Dezember 2024 erfahren wir, dass das Hauptziel des neuen Fachs darin besteht, „den Schülern die Möglichkeit zu geben, die Merkmale des kommunistischen Regimes in Rumänien, die spezifischen Maßnahmen und die Politik des Regimes und die sozialen und kulturellen Auswirkungen auf die rumänische Gesellschaft kennen und verstehen zu können”. Auch wenn es scheint, dass eine solche Entscheidung reichlich spät kommt und vielleicht der Eindruck entsteht, dass Rumänien im Vergleich zu anderen Ländern mit der Aufarbeitung der eigenen Geschichte hinterherhinkt, ist Florin Cristescu anderer Meinung. Parallel zu seiner Arbeit als Lehrer untersucht er als Doktorand Geschichtslehrbücher in Serbien und Kroatien. Er meint, dass Rumänien im Vergleich zu manchen anderen ehemaligen kommunistischen Ländern, die dazu neigen, Teile der Geschichte zu negieren oder zu bagatellisieren, sich auf dem richtigen Weg befindet. „In den Schulbüchern Serbiens kommt das Wort ‚Völkermord‘ nicht einmal vor”, illustriert er.
Die Situation in Rumänien ist mit der Einführung dieser beiden Fächer völlig anders. Obwohl der Lehrplan noch nicht vom Ministerium ausgearbeitet wurde, bietet das vor zwei Jahren eingeführte Fach einige ermutigende Perspektiven.
Deutschland als klassisches Vorbild
Wenn man ein Vorbild für Vergangenheitsbewältigung braucht, kann man Deutschlands Anstrengungen in Betracht ziehen: Deutschland strebt eine politische und soziale Bildung des Volks an, um die eigenen geschichtlichen Fehler und Verbrechen zu akzeptieren, zu verstehen und nie mehr zu wiederholen. Dafür entstanden eine Reihe an gut organisierten, von der Bundesregierung finanzierte Stiftungen, Museen, Denkmäler, die dem Publikum die grausame Vergangenheit Deutschlands vermitteln, zusammen mit Gedenktagen und geeigneten Schulbildungsinhalten. Berlin ist ein Zentrum für die Erinnerung an Holocaustopfer, mit Beispielen wie das „Denkmal für die ermordeten Juden Europas” als nationales und europäisches Symbol des Bewusstseins, oder die Berliner Mauer als Erinnerungsort des sozialistischen Regimes und der Wiedervereinigung. Außerdem wurden die ehemaligen Konzentrationslager im ganzen Land zu Museen umgewandelt. Diese Erinnerungskultur der Deutschen scheint fruchtbar: Sie wollen nicht nur das Gute in ihrer Geschichte bewahren, sondern auch die Spuren einer grausamen Vergangenheit, und darauf eine selbstbewusste Zukunft aufbauen. Obwohl es noch antisemitische und rassistische Bewegungen gibt, bleibt in diesem Sinne die Initiative des deutschen Staats lobenswert.
Rumänien: Wichtige Institutionen geschaffen
Obwohl Rumänien die Verbrechen des Holocausts hierzulande im kommunistischen Regime nicht thematisiert hat, hat Rumänien nach der Revolution wichtige Schritte gemacht und Stiftungen, Museen und Denkmäler geschaffen.
Das Nationale Institut „Elie Wiesel” für Holocaust-Studien in Rumänien ist ein gutes Beispiel: Im Jahre 2005 gegründet, steht das Institut für eine europäische, demokratische, respektvolle und implizierte Initiative unserer Regierung. Das Institut hat auch das Denkmal für Holocaust-Opfer in Rumänien in Bukarest 2009 eingerichtet. Dort erinnert eine Ansammlung von mehreren Skulpturen – für manche überraschenderweise - nicht nur an die Juden, sondern auch an die Roma-Opfer des Holocausts.
Zum Gedenken an die Opfer der kommunistischen Zeit wurde 2009 das „Institut für die Untersuchung der Verbrechen des Kommunismus und der Erinnerung an das rumänische Exil” gegründet, auch eine von der Regierung finanzierte Initiative. In diesem Fall aber war die Regierung ein bisschen langsam. 1992 hat Ana Blandiana, die damalige Leiterin der Stiftung „Bürgerliche Allianz”, schon ein Projekt für die Erinnerung der Kommunismusopfer in Rumänien mit der Unterstützung der EU eingerichtet: Das Mahnmal für die Opfer des Kommunismus und des Widerstands in Sighetul Marma]iei. Zurzeit steht dieses Mahnmal und Museum unter den wichtigsten Denkmälern für die Erinnerung der Opfer in der europäischen Geschichte, zusammen mit dem Auschwitz-Denkmal und dem Friedensdenkmal in der Normandie.
Deutschland: Aufklärung auch interdisziplinär
Ein grundlegender Unterschied zu Rumänien liegt in der Art und Weise, wie das Thema in Deutschland in der Schule behandelt wird. Dort sind Aufklärung über Holocaust und Kommunismus in den Geschichtsunterricht integriert, so wie es in Rumänien bis zur Einführung der neuen Fächer, die das Verständnis vertiefen sollen, der Fall war. Die Grundsätze sind nach Angaben des Sekretariats der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland, die gleichen: „Die Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland stimmen in der Auffassung überein, dass eine intensive und gründliche Befassung mit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft zu den verpflichtenden Aufgaben der Schule gehört. Dabei steht die Erinnerung an den Holocaust an zentraler Stelle”. Die Maßnahmen gehen bereits auf das Jahr 1978 zurück, als der Beschluss der KMK vom 20. April das Thema Holocaust in den Lehrplänen in ganz Deutschland festschrieb. Es gibt einen Leitfaden für den Unterricht von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, der auch fächerübergreifende Ansätze bietet. Im Philosophieunterricht kann man beispielsweise über die marxistische Klassentheorie sprechen, während man im Kunstunterricht über die bekannten sowjetischen Plakate spricht. Im Deutschkurs kann man über den sozialistischen Realismus in der Literatur diskutieren, in der Religionsstunde über den Atheismus in der DDR oder die Rolle der Kirche in einem säkularen Staat.
Rumänien: Was Schüler noch vermissen
Nach etwa vier Monaten Unterricht über die Geschichte des Holocausts sind die rumänischen Schüler offen dafür, mehr über die Merkmale von Extremismus zu erfahren – und haben Angst vor extremistischen Tendenzen in ihrer Generation, auf beiden Seiten des politischen Spektrums. Die meisten von ihnen glauben, dass ausreichend Gedenkstätten vorhanden sind, die Phänomene werden in der Schule erklärt, aber einige Fragen bleiben weiter unbeantwortet: Wie hat sich das Phänomen global entwickelt? Wo hat es seinen Ursprung? Wie hat es sich im Alltag in Rumänien manifestiert? Ein Schüler der 11. Klasse erzählt, dass er weiß, dass es Denkmäler für die Opfer des Kommunismus gibt, aber dass sie als geografische Punkte und nicht als erinnerungswürdige Tatsache behandelt werden. Aus den Informationen, die er im Laufe der Jahre gesammelt hat, weiß und glaubt er, dass Kommunismus nicht erfolgreich umgesetzt werden kann, dass er viel zu utopisch sei. Doch wünscht er sich, wie seine Mitschüler auch, zu verstehen, woher die Idee kam und in welchem Kontext sie entstanden ist: „Ich würde es interessant finden, die Feinheiten zu verstehen und nicht nur gesagt zu bekommen, dass der Kommunismus gut war“, bezieht er sich auf das Phänomen der Kommunismusnostalgie in der Bevölkerung.
Ziele erreicht, aber...
Fast zwei Jahre nach der ersten Unterrichtsstunde über die Geschichte des jüdischen Volkes in rumänischen Schulen sind Erfolge zu erkennen. Teilweise aber erscheint der Lehrstoff den Schülern zu akademisch. Im Hinblick auf die kulturelle Vielfalt wäre ein Kapitel über die Geschichte der Minderheiten in Rumänien wünschenswert gewesen, da viele Gemeinschaften von den Schrecken des Rechtsextremismus betroffen waren, finden einige.
Trotzdem werden die Unterrichtsziele auf mehreren Ebenen erreicht. Laut Lehrplan soll das Fach das Profil des Absolventen ergänzen und ihn „informiert (...), selbstbewusst, fähig, mit anderen zu kommunizieren und zu kooperieren, Respekt und Empathie für das Fremde zu zeigen, (...) Verantwortung zu übernehmen und nationale und globale Werte bewusst umzusetzen“, machen.
Das Lehrbuch, das vom Bildungsministerium genehmigt wurde, ist in sechs Einheiten gegliedert: die Antike und das Mittelalter, die Neuzeit, die Juden in der rumänischen und europäischen Gesellschaft zwischen dem 14. und 20. Jahrhundert, die Anfänge des Antisemitismus auf europäischer Ebene sowie eine moderne Perspektive auf die Verleugnung des Holocaust und das Gedenken im 21. Jahrhundert.
Der Schlüssel ist Bewusstseinsbildung
Lehrer Cristescu meint: „Die Fehler der Vergangenheit können nur durch Bewusstseinsbildung vermieden werden, insbesondere in den Generationen der Zukunft. Es ist in Ordnung, diesen Kurs über die Geschichte des Holocausts zu haben. Leider müssen wir feststellen, dass es vor allem nach 1990 eine Renaissance rechtsextremer Bewegungen gab. Es gibt Leute, die oft Aspekte des Holocausts leugnen (...) und diese Dinge tauchen auch im öffentlichen Diskurs einiger Persönlichkeiten auf, wir sehen, wie die rumänische politische Welt aussieht. Bestimmte Leute werden gefeiert, die in der Vergangenheit Verbrechen begangen haben, aber auch Leute, deren antisemitische Seite dem Publikum nicht bekannt ist. Man spricht nur über ihre Leistungen. Ich erkläre den Schülern, dass unsere Geschichte in Grautönen geschrieben ist. Ich meine, dass das Hauptziel darin besteht, die Nostalgie in der rumänischen Gesellschaft zu eliminieren, was den Kommunismus betrifft, aber auch die rechtsextremen Tendenzen, die ich oft sowohl bei den Schülern als auch bei bestimmten Personen erkenne, von denen wir bestimmte Erwartungen haben”.
Schon gewusst? Symbole unter Strafe
Freilich bleibt der Staat gegenüber extremistischen Manifestierungen in der Öffentlichkeit nicht passiv, sondern bestraft solche Handlungen je nach Gesetz. Die öffentliche Darstellung bestimmter Symbole ist strafrechtlich streng geregelt. Laut deutschem Strafgesetzbuch wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe geahndet, wer verbotene nazistische Symbole verbreitet, verwendet oder als Gegenstände herstellt, lagert, ein- oder ausführt. Auch in Rumänien gibt es strenge Strafen: Nach Artikel 4 in der Verfassung wird die Herstellung, der Verkauf, die Verbreitung und der Besitz von faschistischen, legionären, rassistischen oder fremdenfeindlichen Symbolen mit einer Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu drei Jahren und dem Entzug bestimmter Rechte geahndet. Dasselbe gilt für deren öffentliche Verwendung.
So werden Symbole wie das keltische Kreuz, die Swastika, die Runen (z. B. Odal), das Eiserne Kreuz, die Wolfsangel und Mjölnir häufig mit Rechtsextremismus in Verbindung gebracht und von neonazistischen oder nationalistischen Gruppen verwendet. Auch wenn einige von ihnen, wie das keltische Kreuz, die Runen oder Mjölnir, vorchristliche Ursprünge oder kulturelle und religiöse Bedeutungen haben, wird diese oft durch den Kontext ihrer Verwendung beeinflusst. Sie können aber auch in neutralen Kontexten vorkommen, z. B. als historische Gegenstände, religiöse Symbolik oder in der Musikkultur.
Aufklärung versus „Ostalgie“
Im Vergleich zu den möglichst objektiven Informationen, die man in der Schule vermittelt, kommen Menschen aller Altersgruppen in Kontakt mit den individuellen Erfahrungen anderer Personen. Das Verhältnis zur faktischen Wahrheit wird also beeinflusst und so wird oft das Phänomen der „Ostalgie“ (Ost-Nostalgie) erklärt. Die Tendenzen zum Extremismus in Rumänien, wo erst jetzt Maßnahmen ergriffen wurden, zeigen uns, wie der Schlaf der Erinnerung Ungeheuer gebären kann.
Dina Rashad,
Elena Trană,
Șerban Medvichi, Anamaria Tudor
Die vorliegende Fallstudie ist im Rahmen einer Kooperation zwischen der ADZ und dem Department für Germanische Sprachen und Literaturen der Universität Bukarest entstanden, unter Anleitung von Dozentin Ioana Cusin und Chefredakteurin Nina May. Im Masterstudiengang SCILL befassten sich die Studenten in Arbeitsgruppen mit verschiedenen Formen journalistischen Schreibens, ausgehend vom Buch „Die Stilistik – eine Disziplin zwischen den Stühlen? Wissenschaftliche Ansätze zu Stilbegriff, Stiltheorien und Stilanalysen“ von Mariana-Virginia Lăzărescu (Editura Universității din București), in dem unter anderem das Thema Stil in der Presse behandelt wird.