Der Bukowiner jüdische Dichter deutscher Sprache Immanuel Weißglas, Jugendfreund und Schulkamerad von Paul Celan, wurde wie dieser im Jahre 1920 im damals rumänischen Czernowitz geboren. Beide gingen in Czernowitz zur Schule, beide überlebten in den Jahren 1941 bis 1944 die Judenverfolgung und die Deportation in verschiedene Arbeitslager, beide kamen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 nach Bukarest, wo beide als Verlagsmitarbeiter und Übersetzer ihr Geld verdienten. Sowohl Celan als auch Weißglas hatten vor, in den Westen zu fliehen, aber nur Celan gelang 1947 die Flucht nach Wien, während Weißglas bis zu seinem Lebensende 1979 als Dichter und Übersetzer in der rumänischen Hauptstadt wirkte.
Im Gegensatz zu Paul Celan, dessen erster Gedichtband „Der Sand aus den Urnen“ 1948 in Wien erschien, konnte Immanuel Weißglas bereits 1947 einen ersten Lyrikband mit dem Titel „Kariera am Bug“ in Bukarest veröffentlichen. Der doppeldeutige Titel bezieht sich dabei einerseits auf das transnistrische Arbeitslager Cariera de Piatră, in dem neben vielen anderen Bukowiner Juden auch Weißglas Zwangsarbeit verrichten musste, andererseits aber und zugleich auf die dichterische Karriere, die der junge Lyriker unter solch widrigen Bedingungen zu beginnen hatte. Ein zweiter Gedichtband, dessen Veröffentlichung Weißglas im selben Jahr vorbereitet hatte, konnte, sei es aus politischen, sei es aus ökonomischen Gründen, im selben Jahr nicht mehr erscheinen. Dieser Lyrikband trägt den Titel „Gottes Mühlen in Berlin“, der erst 1994 posthum in einer auf 15 Gedichte reduzierten Fassung im Rahmen der Lyriksammlung „Aschenzeit“ veröffentlicht wurde, herausgegeben von Theo Buck im Aachener Rimbaud Verlag.
Im selben Verlag hat jüngst der Jassyer Germanist Andrei Corbea-Hoişie eine neue Edition des besagten Gedichtbandes „Gottes Mühlen in Berlin“ vorgelegt, die 53 Gedichte (inkl. zwei Übersetzungen aus Guillaume Apollinaire und Alfred Edward Housman) von Immanuel Weißglas enthält. In der editorischen Notiz und im ausführlichen Nachwort zu diesem Lyrikband schildert der Herausgeber und Kommentator der Weißglasschen Gedichte, Andrei Corbea-Hoi{ie, die schwierige Quellenlage für die vorliegende Edition und begründet zugleich die von ihm getroffene herausgeberische Entscheidung.
Angesichts dreier ursprünglich existierender Typoskripte – des Wiener, des Londoner und des mittlerweile nicht mehr verfügbaren Frankfurter Typoskripts – legte der Herausgeber seiner Edition das Wiener Typoskript zugrunde, weil dieses, wenn es auch rund 40 Gedichte weniger als das Londoner Typoskript umfasst, zeitlich und kompositorisch dem ursprünglichen Buchprojekt von Immanuel Weißglas am nächsten zu kommen scheint. So gewinnt der Leser einen unmittelbaren Einblick in die dichterische Werkstatt des jungen Weißglas, unter Verzicht auf die zahlreichen späteren Korrekturen und Überarbeitungen durch den Autor.
Der von Andrei Corbea-Hoişie edierte Gedichtband „Gottes Mühlen in Berlin“ gliedert sich in fünf Teile. Auf den „Der Krieg der Toten“ überschriebenen ersten Teil (8 Gedichte) folgt die „Der deutsche Krieg“ betitelte zweite Abteilung (9 Gedichte). Der dritte Teil mit der Überschrift „Die verlorene Schar“ (12 Gedichte) beschließt dann das erste Buch, dem jedoch wider Erwarten kein zweites, sondern stattdessen zwei Anhänge folgen. Der erste Anhang trägt den Titel „Deutsche Klage“ (18 Gedichte), der zweite titellose Anhang (6 Gedichte) basiert ausschließlich auf dem Londoner Typoskript und enthält neben anderen das umstrittene Gedicht „Er“, das Weißglas erst 1970 publizierte und das dann zu einer langen Kontroverse in der Celan-Forschung über die sprachliche und motivische Verwandtschaft zwischen diesem Gedicht und Celans „Todesfuge“ Anlass gab.
Auffällig ist, dass in diesem Gedichtband – so schon im Titel „Gottes Mühlen in Berlin“ – auffällig oft von Deutschem und von Deutschland die Rede ist, was gewiss dazu beigetragen haben mag, dass die Publikation des Lyrikbandes 1947 unterbunden wurde. Ein Buch, in dem das Deutsche so insistierend, ja geradezu obsessiv beschworen wurde, musste von der rumänischen Zensur jener Nachkriegsjahre geradezu als unzumutbar betrachtet werden. Bei genauerem Hinsehen wird aber schnell deutlich, dass Weißglas’ Deutschlandbild in „Gottes Mühlen in Berlin“ als höchst ambig anzusehen ist. Einerseits ist das Deutsche darin die deutsche Sprache und die deutsche Kultur, die dem fern von Deutschland lebenden Bukowiner trotz allem Heimat bedeutet; andererseits ist Deutschland jenes Reich, das Leid und Tod über die Heimat des Dichters, die Bukowina, bringt. Nicht von ungefähr hat Weißglas seinem Gedichtband folgende Zeilen als Motto vorangestellt: „Der Verfasser dieses Buches hat Deutschland nie von Angesicht gesehen, aber lange gelebt und gelitten.“ Und nicht von ungefähr erscheint Deutschland in diesem Gedichtband oft genug in der zweideutigen Formulierung „deutsche Fremde“, die einerseits bedeuten kann, dass Weißglas’ lyrische Schöpfungen außerhalb Deutschlands entstanden, andererseits aber auch, dass sie sich einer sprachlichen und geistesgeschichtlichen Tradition verpflichtet fühlen, die jener barbarischen, kulturlosen, jedes Idealen und Utopischen baren Lebenswirklichkeit des Deutschen in der zeitgenössischen Gegenwart fremd ist und ihr von Grund auf widerspricht.
Dieselbe Ambivalenz eignet der Wortfügung „Deutsche Klage“ – so der Titel einer Unterabteilung des weißglasschen Gedichtbandes –, welche zum einen bedeuten kann, dass der von Deutschland verursachte Zustand der Heimat des Bukowiner Dichters nicht anders als beklagenswert zu bezeichnen ist. Andererseits ist die „deutsche Klage“ zugleich die Klage als Dichtung selbst, die, als literarische Gattung von den alttestamentlichen Klagepsalmen Davids und den Klageliedern Jeremias angefangen, auch in Deutschland – man denke etwa an die Nibelungenklage – wirkmächtig geworden ist, und die für den deutschsprachigen Dichter in der Bukowina gleichsam das sprachliche und literarhistorische Handwerkszeug bereitstellt, mit dem er die geschichtlichen Erfahrungen seiner eigenen zeitgenössischen Gegenwart literarisch zu artikulieren imstande ist.
Auch der Titelmetapher „Mühlen Gottes“ eignet dieselbe Ambivalenz. Im Nachwort zu seiner Ausgabe des weißglasschen Lyrikbandes zeigt Andrei Corbea-Hoişie, dass sich der als geflügeltes Wort zirkulierende Spruch von den mahlenden Mühlen Gottes bereits in der Antike, zuerst bei Plutarch, nachweisen lässt, danach bei Sextus Empiricus, später bei Erasmus von Rotterdam, Sebastian Franck, Friedrich von Logau und vielen anderen europäischen Autoren, und zwar immer in dem Sinne, dass die manchmal sich verspätende, aber sichere Strafe seitens der Götter für das Vergehen der Sterblichen auf jeden Fall vollzogen wird, und dass Gott niemandem einen Sündenablass erteilt, sondern dass er die Menschen wegen ihrer Untaten früher oder später zur Rechenschaft ziehen wird. Andererseits gewinnt die Rede von den „Mühlen Gottes“ eine zeitgeschichtliche Spezifizierung nicht nur durch deren Verortung in der deutschen Hauptstadt Berlin, sondern auch durch die von den SS- und SD-Sonderkommandos verwendeten Knochenzerkleinerungsmaschinen, die zur Spurentilgung der Massenmorde im besetzten Osten eingesetzt wurden. Das Mahlen der Mühlen ist hier also kein Akt der göttlichen Gerechtigkeit mehr, sondern Ausdruck eines barbarischen und sinnlosen Mordens, das jeglicher Humanität längst entsagte. Der Leser dieser von Andrei Corbea-Hoi{ie sorgfältig edierten und behutsam kommentierten Ausgabe von „Gottes Mühlen in Berlin“ wird bei der Lektüre der Gedichte von Immanuel Weißglas nicht nur interessante sprachliche Entdeckungen machen können, sondern auch einen zeitgeschichtlich authentischen Einblick in die rumänische Kriegs- und Nachkriegszeit aus der Sicht eines bedeutenden Bukowiner Dichters deutscher Sprache gewinnen können, der zu Recht der europäischen Moderne zuzurechnen ist.
Immanuel Weißglas, Gottes Mühlen in Berlin. Ausgewählte Gedichte. Herausgegeben und kommentiert von Andrei Corbea-Hoişie, Rimbaud: Aachen 2020, 160 S., ISBN 978-3-89086-393-1, 30 Euro.