Es ist Donnerstagabend und aus einem Gebäude gegenüber vom Rumänischen Nationaltheater erklingt elektronische Musik. Im Eingang des Hauses mit der Nummer 18 verschwinden urbane Mittzwanziger. Durch das Treppenhaus hindurch gelangen sie in den Innenhof. Hier steht auf einem Tisch ein Laptop. An eine der Hauswände sprüht ein junger Mann gerade Farbe. Der Beamer, der an den Laptop angeschlossen ist, dient ihm als Spraydose für sein digitales Graffito. In der gegenüberliegenden Ecke verhüllt ein weißes Tuch einen größeren Gegenstand. Später am Abend wird darunter das erste in Rumänien hergestellte Billig-Elektroauto zum Vorschein kommen.
Bereits zum fünften Mal haben das Klausenburger Goethe-Zentrum und das Französische Institut Künstler und Programmierer sowie Kulturbegeisterte und Computerspieler zusammengebracht, um der elektronischen Kunst wie auch den Kunst- und Technologieschaffenden eine Plattform zu bieten. Das Festival „Clujotronic“ will neueste Formen elektronischer Musik und visueller Kunst präsentieren. Während im Innenhof die Vorbereitung für die Autopräsentation läuft – selbst Bürgermeister Emil Boc wird dazu anwesend sein – diskutiert man im ersten Stock über „Virtual Reality“. Es ist das zentrale Thema der diesjährigen Ausgabe. Neben der bloßen Performance steht auch der Austausch unter den internationalen Künstlern und Programmierern im Vordergrund.
Virtual Reality (VR) oder virtuelle Realität ist die scheinbare Erfüllung eines Jahrhunderte alten Menschheitstraums. Sie transportiert den Benutzer an jeden beliebigen Ort, ob an das andere Ende der Erde nach Feuerland oder in Fantasiewelten wie Narnia. In Filmen wird das Thema schon seit Jahrzehnten thematisiert. Die Matrix-Trilogie zeigte, wie fast die gesamte Erdbevölkerung in einer virtuellen Realität lebt. Vor zehn Monaten hatte in der Berliner Platoon-Kunsthalle gar das erste deutsche VR-Kino-Festival Premiere. Eng verbunden mit der VR ist die AR, die Augmented Reality beziehungsweise erweiterte Realität. Schon vor fünfzehn Jahren hat das Verteidigungsministerium der Vereinigten Staaten damit begonnen, ein komplett vernetztes Waffen- und Kommunikationssystem zu entwickeln, welches den Soldaten Zugriff auf taktische Daten oder Karten gibt. Heute ermöglichen VR-Anwendungen den Soldaten Übungen in unbekanntem Terrain. Die Simulationsmöglichkeiten reichen vom Panzerfahren bis hin zu spezifischen Situationen wie einer Geiselbefreiung. Militär und Raumfahrt waren schon immer Garanten des technischen Fortschritts. Häufig steht am Beginn einer neuen Technologie dessen militärischer Nutzen. Die Entwicklung von Computern und des Internets, aber auch von Konservendosen, wurde vor allem durch Militärforschung vorangetrieben.
Für die Unterhaltungsindustrie brachte Nintendo 1995 den Virtual Boy – eine Videospielkonsole, die mehr an ein Münzfernglas erinnerte, aber einen real wirkenden 3D-Effekt erzeugte – in Amerika und Japan auf den Markt. Doch ausgereift war die Technologie noch nicht. Dementsprechend schnell verschwand der Virtual Boy wieder. Und auch der Hype um Virtual Reality flaute Ende der neunziger Jahre merklich ab. Heute steht der kommerzielle Durchbruch von VR kurz bevor. Im Januar brachte Oculus VR die Virtual-Reality-Brille Oculus Rift auf den Markt. Sie ist ein auf dem Kopf getragenes visuelles Ausgabegerät, ähnlich einer Taucherbrille, welches Bilder auf einen augennahen Bildschirm überträgt. Ein erstes Anzeichen für die anstehende Massentauglichkeit von VR war die Übernahme von Oculus VR durch den Internetgiganten Facebook. Rund 1,7 Milliarden Euro ließ sich Mark Zuckerberg die Übernahme im März 2014 kosten. Bereits einen Schritt weiter sind der taiwanesische Elektronikkonzern HTC und das amerikanische Softwareunternehmen Valve. Im April dieses Jahres brachten die beiden Entwickler die HTC Vive auf den Markt, welche neben der VR-Brille auch zwei Controller und eine Basisstation mitbringt. Sensoren erfassen, wo sich der Spieler im Raum befindet und transportieren ihn mitten in das Spielgeschehen.
In zwei Räumen konnten die Besucher des Clujotronics beide VR-Brillen selbst ausprobieren. Für die Oculus Rift hatte Tim Schuster eine Szene aus der Schlacht bei Lützen, eine der Hauptschlachten des Dreißigjährigen Kriegs, nachgebaut. „Geschichte zum Anfassen“, wie es der Multimedia & VR-Design-Student aus Halle/Saale nannte. Dabei ist das 360-Grad-Bild statisch, doch kann man in die Gewehrläufe oder auf einen auf dem Boden liegenden Verwundeten herabschauen. Ein Gefühl, als würde die Zeit im November 1632 angehalten. Selbst in das Geschehen eingreifen ließ sich bei Horaţiu Roma. Der gebürtige Klausenburger arbeitet in Dänemark für das Unternehmen VRUnicorns und brachte die beiden von ihm mitentwickelten Spiele „Selfie Tennis“ und „Ski Jumping“ mit. Hat man nicht selbst die VR-Brille auf, sieht man nur Menschen, die komische Bewegungen machen – was durchaus witzig ist. Lässt man sich dann aber auf die VR-Erfahrung ein, so fliegen einem umgehend die Tennisbälle um die Ohren. Richtig atemberaubend wird es bei Spielen wie Arizona Sunshine, so Spieleentwickler Hora]iu Roman. „Wenn dich die Zombies jagen, dann hast du wirklich Angst.“
In einem anderen Raum – das futuristisch anmutende Elektroauto wurde inzwischen der Öffentlichkeit vorgeführt – präsentiert der österreichische Intermediakünstler Klaus Obermaier ein audiovisuelles Klangerlebnis der besonderen Art. Experimentelle Kunst, die die Grenzen der Technologie auslotet, wie es Ingo Tegge, Leiter des Goethe-Zentrums, beschreibt. Drei Tage lang war das Haus Nummer 18 Hotspot für elektronische Kunst und Technologieschaffende. „Projektionsmapping“, „Storytelling und Raumgestaltung“, „Spieleentwicklung“ oder „Musik für Videospiele“ wurden diskutiert. Zwei Workshops führten in das Lightpainting sowie die Entwicklung von VR-Anwendungen ein. Am Abend erklang dann elektronische Musik aus den Fenstern gegenüber vom Nationaltheater.