Heimatliebe darf nicht unterschätzt werden

Über den Roman „Nirgendwo Europa“ von Julia Schiff und zu ihrem 85. Geburtstag


Zu den Banater Gemeinden, die auf 300 Jahre seit der Besiedlung zurück blicken können, zählt die heutige Kleinstadt Detta mit fast 6000 Einwohnern.

Über diese wichtige Ortschaft als Zentrum der Gegend südlich von Temeswar/Timișoara wurde jedoch in der ADZ bisher wenig veröffentlicht, obwohl es etliche frühe (1900) und neuere Buchveröffentlichungen gibt. Nicht zuletzt die Monografie des inzwischen verstorbenen Dettaer und Temeswarer Rechtsanwalts Dr. Anton Büchl (4. Mai 1908, Detta - 19. Januar 1980, München), die im Banat derzeit ins Ungarische übersetzt wird. Über die Dettaer 200-JahrFeier konnten seinerzeit in der „Temesvarer Zeitung“ 1925 eine Reihe Beiträge gelesen werden.

„Nirgendwo Europa“

Aus der Dettaer Erlebnisgeneration gibt es keine bessere Zeitzeugin als die Schriftstellerin und verdienstvolle Übersetzerin Julia Schiff – sie veröffentlichte auch unter dem Pseudonym Margarete Schiff –, Tochter des Rechtsanwalts Anton Büchl, die im März ihren 85. Geburtstag begehen konnte. Sie lebt seit 1981 in Bayern. In ihren eigenen literarischen Werken hat Schiff - u.a. erhielt sie einen Preis der Kulturpolitischen Korrespondenz und 2001 den Donauschwäbischen Kulturpreis des Landes Baden-Württemberg –  viel festgehalten aus der Geschichte und aus dem Gemeinschaftsleben des Städtchens von früher und der Deportation aus Detta in den B˛r˛gan. Sie ist eine Autorin, die in drei Kulturen und Sprachen sozialisiert ist. Bei Wikipedia – für viele Forschende und Journalisten von Heute mit den Texten Richtschnur – steht zu Julia Schiff als Schriftstellerin eine ergänzende Aktualisierung schon lange aus, wie auch zu ihrem bereits verstorbenen Ehemann, dem Temeswarer Künstler, Übersetzer und Autor Robert Schiff (gestorben in München am 3. Januar 2020).

Als jüngste Arbeit der Schriftstellerin erschien 2023 im Pop-Verlag Ludwigsburg der Roman „Nirgend-wo  Europa“ (ISBN 978-3-86356-372-1, 105 Seiten). Den Handlungsraum hat die Autorin nach Westungarn gelegt, in eine Ecke mit einst starken deutschen Gemeinden. Die Zeit des Geschehens ist die ihrer und unserer Generation nahe liegende, die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und des einsetzenden Wandels, der Globalisierung und des Werdens der EU, in der sich die Bewohner vieler abgelegenerer ländlicher Gebiete bis heute als Stiefkinder fühlen. Hauptheld ist ein Chemie-Ingenieur, ein 1956er Dissident, der mit seiner indischen Frau aus England in die alte Heimat zurückkehrt.          

Einerseits erlebt das Frührentner-Ehepaar die Genügsamkeit in dieser anderen, alten Weltordnung, die Abgeschiedenheit von der Hektik der westlichen Welt, andererseits wusste die erzählende Hauptperson Imre, Sohn eines emigrierten Lehrers aus Großwardein/Oradea, dass er in dem kleinen, ehemals deutschen Dorf als Zugereister Fremder bleiben wird, so wie das auf dem Lande schon immer war, wenn er auch nicht als Ausländer galt. Das gekaufte alte schwäbische Siedlerhaus gibt Gelegenheit, Rückblicke aufzuzeigen, wie und was da einmal war in dem Haus, im Hof, in der Wirtschaft, und in dem Ort mit immer noch vielen Siedlerhäusern im alten Kaisergelb, wie auch die Kirche aus dem 18. Jahrhundert mit der alten Linde, so wie es in der deutschen Urheimat war. Akribisch getreu zeichnet die Autorin detailfreudig Bilder der Landschaft, des Dorfes und seiner Bewohner. Das in einer bilderreichen Sprache, mit vielen zutreffenden Feststellungen: „Wenn die Sprache in der Familie nicht mehr gesprochen wird, stirbt sie aus“ (S.18), oder „Häusern wie Menschen ist ihre Dürftigkeit anzusehen“ (S. 23) wie auch „Ja, damals hing noch der Rang eines Menschen im Dorf von seiner Wirtschaftskraft ab“ (S. 28).

Die beiden Weltkriege mit einschneidenden Folgen, wie Zwangsumsiedlungen und Menschenopfern aus fast allen Familien – daher immer wieder Gesprächsthema – werden nur am Rande erwähnt. Hingegen kommen alle nachfolgenden Ereignisse in die Handlungen: die Enteignungen, Zwangskollektivierung, die 1956er Revolution, die Landflucht der jungen Generation, die nicht mehr gepflegten Weingärten, die Roma-Familien im Dorf, die sich selbst Zigeuner nannten, bis zu Gastarbeiten im Ausland, Dorfschulschließung und Kinder, die dann als Pendler in öffentliche Verkehrsmittel gesetzt werden, Zweitwohnungen für Sommerfrischler aus der Stadt, zwei Frauen in einem Bett, Fremdgehen, der schwierige Mentalitätswandel, die oft übertriebene Political Correctness in Deutschland etc. Aber auch die Feiertage im Dorfleben, von Ostern bis Weihnachten, eine Hochzeit und die Beerdigung der Dorfältesten sind eingeflochten, letztere hier verbunden mit einer interessanten Beschreibung des Generationen-Friedhofs.

In die politischen Debatten am Schluss platzt die Nachricht, dass nun die alte katholische Dorfkirche einsturzgefährdet sei. Das Ende lässt Zuversicht aufkommen, denn die beratenden Männer beschließen, das Schicksal der Kirche in die Hände der jungen, aus dem Dorf stammenden, inzwi-schen bekannten Schauspielerin und Sängerin Sandra Holczinger zu legen, die seinerzeit die alten schwäbischen Volkslieder gesammelt und im Dialekt auch vorgetragen hatte. Von ihr sagen sie „Wahre Heimatliebe darf nicht unterschätzt werden“ (S. 105). Und durch den ganzen Roman zieht sich ein schwäbischer Faden hindurch, der eine besondere Lektüre ergibt.