Das Theaterstück „Missverständnis“ von Albert Camus, 1944 uraufgeführt im Pariser Théâtre des Mathurins, erlebte am Deutschen Staatstheater Temeswar am 7. Juni 2012 seine Premiere in der Vision des renommierten Regisseurs László Bocsárdi .
Was soll der Zuschauer aus diesem Meisterstück des französischen Dramatikers lernen, das ihn ins Labyrinth der Missverständnisse lockt? Versucht der Autor zu belehren, dass eine Kette von Verstrickungen des Un(aus)gesagten, des Mangels an Kommunikation den Menschen ins Unglück stürzen kann? „Ein Wort hätte genügt“, heißt es im Drama, doch die Katastrophe wird gerade dadurch ausgelöst, dass dieses Wort nicht ausgesprochen wird. Dem nach Jahren heimgekehrten verlorenen Sohn gelingt es nicht, sich zu überwinden und verbal seine Identität seiner Mutter und seiner Schwester preiszugeben, was allen zum Verhängnis wird. Auf der elementarsten Ebene des menschlichen Daseins, dem Paradigma von Liebe und Tod, wird sich der daraus entstehende Konflikt in kleinsten Einheiten entwickeln.
Die finster absurde Geschichte von Mutter und Tochter, die den Sohn bzw. Bruder nicht erkennen und aus ihrem Drang, sich über Raubmord zu bereichern, um aus der Öde ihrer eng gewordenen Welt zu entkommen, diesen töten, beschäftigte Camus auch in der Erzählung „Der Fremde“ (1940). László Bocsárdis Inszenierung greift diese Thematik auf und verfolgt konsequent das kommunikative Scheitern der Figuren, indem er die Frage der Schuld, der Entwicklung von Gewalt und ihrer Auslöser stellt, um schließlich auch die Frage der Erlösung aus einer absurden Welt aufzuwerfen.
Mit Akribie durchleuchtet der Regisseur den Camus-Text, setzt ihn in Parallelwelten um, die exemplarisch die Einsamkeit des menschlichen Daseins zeichnen, wobei er alles Überflüssige weglässt und mit sparsamen Mitteln eine ausdrucksvolle Atmosphäre schafft. Faszinierende atmosphärische Bilder umrahmen das Kerngeschehen, das über symbolhafte Elemente, technisch meisterhaft gesteuerte visuelle und auditive Überraschungseffekte den entsprechenden Rahmen für die sich abspielenden existenziellen Tragödien bietet.
Ramona Olasz spielt beeindruckend kraftvoll in diesem schicksalhaften Drama die Rolle der Martha, mit vielen Zwischentönen, als Verkörperung der streng wirkenden, gefühllosen Schwester, die in kleinen, gut dosierten Ausbrüchen des Menschlichen eine gewisse Versuchsanordnung spannend gestaltet.
Die als kalt empfundene junge Frau ist gleichzeitig hilflos und verletzlich, von innerer Zerrissenheit und ihrem sehnsuchtsvollen Traum geplagt, in einem warmen Land die Sonne, das Meer – mit einem Wort: das „wahre“ Leben – zu erleben. Auch die Mutter, virtuos und eindrucksvoll von Ida Jarcsek-Gaza dargestellt, träumt vom „Sonnenland am Meer“. Im Gegensatz zu ihrer Tochter bewahrt sie noch einen Rest von Anständigkeit und zeigt letztendlich Reue. Beeindruckend der Moment der Erkenntnis, dass sie als Mutter ihren eigenen Sohn umgebracht hat – verzweifelte Hilflosigkeit und mütterliche Liebe vermischen sich in dieser Seele, die nicht mehr weiter weiß als innezuhalten.
Beide Gestalten philosophieren über Verbrechen und Mord und kommen in ihrer als humanitär aufgefassten Haltung zu dem Schluss, dass der Tod weniger grausam sei als die Natur, bis sie jedoch Opfer ihrer eigenen „Wahrheiten“ werden. Ihre emotional geladene Spielweise, mit der Kälte des Kalküls kontrastierend, durchbricht den metaphysischen Grundton. Dem Regisseur gelingt es, diese klare „Mord“-Geschichte, die in wenige Worte gefasst werden kann, in eine spannende Szenenfolge umzusetzen, die den existenzialistischen Grundton des Philosophen Camus beibehält in seinem Bestreben, die Absurdität der Situation zu argumentieren.
Die symbolhaft aufgeladene Figur des alten Knechts, des permanent anwesenden Zeugen, meisterhaft von Sorin Leoveanu interpretiert, begleitet das verbrecherische Treiben in seinem Schweigen, das er nur am Ende durchbricht, mit seinem lakonischen „Nein“. Seine minutiös ausgearbeitete Gestik des ausdrucksvollen non-verbalen Spiels gewinnt an Tiefe und zugleich Rätselhaftigkeit durch seine sprechenden Augen und kleine, manchmal gaghafte Intermezzi, die zur Entspannung der geladenen Atmosphäre dienen.
Ein Kontrastpaar bildet das Ehepaar Jan und Maria, ausdrucksvoll gespielt von Georg Peetz und Ioana Iacob. In ritualhaften Bewegungen innerhalb des vorgezeichneten Bühnenraums treffen sich Liebe und Angst, Vertrautheit und Verzweiflung der Vorahnung. Einen Höhepunkt des Schmerzes erreicht Maria in ihrer Konfrontation mit Martha, die ihre Tat offen bekennt und dadurch ihren Menschenhass und zugleich ihren verborgenen Schmerz, aus Mangel an wahrer Liebe, hinausschreit.
Die begleitende Live-Musik und die eingeblendeten Solos auf verschiedenen Instrumenten (Cello, Viola, Saxophon, Klavier) stellen oft einen Dialogpartner der Protagonisten in den Momenten des tiefsten Schweigens dar, sie verdoppeln die emotionale Spannung der skurrilen Bühnenrealität.
Im klassisch strukturierten Familien- und Geschlechterdrama stehen die zwischenmenschlichen Beziehungen im Vordergrund und nicht die kriminelle Tat der Protagonistinnen. Die Tragödie kann als Modell der Angst vor der Sprache, der Last der frustgeladenen Existenz, der familiären Fremdheit/Entfremdung und der metaphysischen Missverständnisse gedeutet werden, ein Drama der Einsamkeit, Trostlosigkeit und Verzweiflung. Zugleich ist sie ein Hinweis auf die unausgesprochene Chance der Erlösung über den Leidensweg der von Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung geleiteten Existenzen in einer absurden Welt.
Die komplexe Inszenierung, eine bis ins kleinste Detail durchdachte Theaterproduktion, ein Kleinod des künstlerischen Umgangs mit den Klassikern des Welttheaters, verdient die Aufmerksamkeit der Zuschauer, die sich vor solchen tiefgreifenden Themen bei einem Theaterbesuch zu scheuen scheinen. Die Konfrontation mit dieser Art der menschlichen Tragödie und der schauspielerisch hohen Leistung im Einklang mit einer vielschichtigen tiefgründigen Regievision sollte gesehen werden!
Folgen wir der Camus-Aussage: „Nichts wird den Menschen geschenkt, und das Wenige, das sie erobern können, muss mit ungerechtem Sterben bezahlt werden. Aber nicht darin liegt die Größe des Menschen. Sondern in seinem Willen, stärker zu sein als die Conditio humana. Und wenn die Conditio humana ungerecht ist, hat er nur eine Möglichkeit, sie zu überwinden: indem er selber gerecht ist.“