Im Kabinett für Zeichnungen und Stiche der Galerie für Europäische Kunst im Ersten Obergeschoss des Bukarester Nationalen Kunstmuseums sind derzeit und noch bis Sonntag aus eigenen Beständen insgesamt 44 italienische Drucke aus dem 15. und 16. Jahrhundert zu besichtigen, die von Holzschnitten, Radierungen und Kupferstichen angefertigt wurden. Die von Dana Crișan und Cosmin Ungureanu kuratierte Ausstellung wird außerdem von einem reich bebilderten Katalog mit einem stattlichen Umfang von 175 Seiten begleitet, der bereits vor zwei Jahren im Verlag des Bukarester Kunstmuseums erschienen ist und den Titel trägt: „Italienische Druckgrafik des 15. und 16. Jahrhunderts und die Schule von Fontainebleau“.
Das Motto dieser Bukarester Schau italienischer Druckgrafiken wurde von den Ausstellungsmachern in zwei lateinische Worte gefasst: „invenit/sculpsit“. Die Perfektform des lateinischen Verbs „invenire“ bedeutet so viel wie: er/sie hat erfunden, entdeckt, geschaffen. Und die Perfektform des lateinischen Verbs „sculpere“ lässt sich folgendermaßen übersetzen: er/sie hat geschnitzt, gemeißelt, gestochen, graviert. Beide Verbformen finden sich nicht selten als Inskriptionen auf den Drucken selbst, teilweise ersetzt durch Entsprechungen wie „fecit“ (er/sie hat gemacht) oder „excudit“ (er/sie hat ausgearbeitet bzw. kunstvoll gestaltet).
In dieser Doppelheit von „invenit“ und „sculpsit“ klingt bereits ein Charakteristikum der italienischen Druckgrafik des 15. und 16. Jahrhunderts an, nämlich die Tatsache, dass die Holzschnitzer und Kupferstecher oftmals nach Originalkompositionen gearbeitet haben, die nicht von ihnen selbst stammten. Ein hervorragendes Beispiel hierfür sind drei in Bukarest ausgestellte Kupferstiche von Giorgio Ghisi aus den Jahren 1570 bis 1575 nach Gemälden von Michelangelo Buonarroti, und zwar nach dessen Deckenmalereien in der Sixtinischen Kapelle im Vatikan. Die drei Kupferstiche geben den Propheten Jeremia, die Persische Sibylle und den Propheten Hesekiel wieder, die auch an der Decke der nach Papst Sixtus IV. benannten Kapelle in dieser Reihenfolge direkt nebeneinander gemalt sind.
Der Vorteil des Kupferstichs gegenüber der Vorlage liegt dabei deutlich auf der Hand. Während die Besucher der Sixtinischen Kapelle die Hälse recken müssen, um die in weiter Ferne ans Deckengewölbe entrückten Fresken in Augenschein nehmen zu können, hat der Betrachter der einzelnen Kupferstiche die Kunstwerke Michelangelos unmittelbar vor sich. Außerdem gewinnt die Originalkomposition durch diese bewusste Fragmentarisierung und gewollte Rekontextualisierung einen Eigenwert, der die Frage aufwirft, ob der die Vorlage reproduzierende Kupferstich nicht vielleicht gleichfalls als Originalwerk zu betrachten ist, selbst wenn er sich an der Bildkomposition eines anderen Meisters orientiert. Dem Renaissance-Künstler als Universal- bzw. Originalgenie wächst damit eine noch größere Bedeutung zu. Gleichwohl respektierten die Kupferstecher die Originalvorlagen ihrer Vorbilder, so etwa Cherubino Alberti, der seinen Kupferstich „Petit Aethera“ – nach dem Zitat aus Ovids „Metamorphosen“: „superum petit aethera victor Iuppiter“ (und siegreich kehrt zu dem ÄtherJupiter) – aus den Jahren 1590 bis 1610 mit dem Kommentar versah: „M ANG B PINXIT IN VATICANO“, d. h. Michelangelo Buonarroti hat das im Vatikan gemalt.
Die Bukarester Ausstellung folgt dabei keiner chronologischen, sondern vielmehr einer thematischen bzw. motivischen Ordnung. Gleichwohl finden sich im ersten und kleineren der beiden Ausstellungssäle in einer als Blickfang ans Kopfende des Raumes platzierten Vitrine zwei Werke des Altmeisters des italienischen Kupferstichs im 15. Jahrhundert Andrea Mantegna. Es handelt sich um zwei Kupferstiche aus den Jahren 1470 bis 1475 mit Bacchanal-Szenen: eine mit einer großen Traubenpresse, eine andere mit einem Silen. Ein dritter Kupferstich von Mantegna in dieser Ausstellung, eine Kreuzabnahme aus dem Jahre 1475, hängt im zweiten und größeren der beiden Ausstellungssäle des Kabinetts für Zeichnungen und Stiche.
Mit drei Ausnahmen stammen sämtliche der in der Ausstellung gezeigten Drucke aus der Sammlung des Mikrobiologen, Immunologen und Mediziners Dr. Ion Cantacuzino (1863-1934), dessen Sammlung von Stichen, Zeichnungen und illustrierten Büchern über 12.000 Stücke umfasste. Die in Bukarest gezeigten Drucke wurden ursprünglich dem Museum Toma Stelian als Schenkung zuteil, bevor sie im Jahre 1950 in den Besitz des Kunstmuseums der Volksrepublik Rumänien übergingen. Die Drucke von Holzschnitten sind in der Buka-rester Ausstellung selbstredend in der Minderzahl. Dazu zählen etwa ein Holzschnitt nach Tizian aus dem Jahre 1525 von Niccolň Boldrini mit einer Landschaft, in der eine Frau eine Kuh melkt, oder ein Holzschnitt aus den Jahren 1525 bis 1530 von demselben Künstler mit dem Bildmotiv des hl. Hieronymus in der Wüste, ebenfalls nach einer Vorlage Tizians.
Auch Werke von Künstlerinnen sind in der Bukarester Ausstellung zu sehen. Von der aus Mantua stammenden Diana Scultori, einer der ersten bekannten Kupferstecherinnen der italienischen Kunstgeschichte, stammt der Druck „Das Bankett der Götter“ aus dem Jahre 1575, das ikonografisch stark von ägyptischer Kunst beeinflusst ist, man beachte etwa die Pose des sitzenden Gottes, die der Rückenstütze des Throns aus dem Grab Tutenchamuns entlehnt scheint, oder auch die Obelisken und Pyramiden im pittoresken Hintergrund, der von exotischen Tieren (Elefant, Giraffe, Kamel, Löwe, Affe) bevölkert ist. Aber auch in diesem Kupferstich fehlt der Hinweis auf den Autor des ursprünglichen Bildentwurfs nicht: „IULIUS ROM. INVENTOR DIANA F.“, d. h. Giulio Romano ist der Erfinder, Diana hat es geschaffen.
Weitere Künstler, deren Werke von italienischen Kupferstechern des 15. und 16. Jahrhunderts als Vorlagen verwendet wurden, sind neben den bereits genannten Tiziano Vecellio und Giulio Romano in der Bukarester Ausstellung ferner Francesco Primaticcio, Raffaelo Santi, Francesco de Rossi, Paolo Veronese, Luca Penni, Parmigianino, Correggio und Giovanni Battista Scultori, der Vater der erwähnten Kupferstecherin Diana Scultori.
Die Themen und Motive der Radierungen und Kupferstiche umfassen mythologische Szenen, biblische Episoden, bacchische Szene rien, Ausschnitte aus den Heiligenviten, historische Begebenheiten, Landschaften und Stadtansichten. In Marcantonio Raimondis Kupferstich aus den Jahren 1512/1513 beispielsweise ist Raffaels „Bethlehemitischer Kindermord“ wunderschön eingefasst von einer sanft geschwungenen Brücke, an deren beiden Bogenenden sich malerisch Gebäude einer mittelalterlichen Stadt erheben, eine Bildidee, die in Raffaels Original nicht vorkommt und die vom nachschaffenden Originalgenie eigenmächtig umgesetzt wurde.
Wer die Bukarester Ausstellung besucht, erhält zudem einen Einblick in eine Zeit, in der sich die Kunstmärkte der Renaissance sukzessive herausgebildet und dabei nach und nach diversifiziert haben. Es gab erste spezialisierte Editoren, erste spezialisierte Händler und erste Besitzer von Urheberrechten, die sich mit folgenden lateinischen Zusätzen zu ihren Namen auf den Drucken verewigten: „edidit“ (er/sie hat herausgegeben), „divulgavit“ (er/sie hat verbreitet), „cum privilegio“ (mit autorisiertem Vorrecht). Allein für ein einziges höchst seltenes Blatt von Michele Lucchese aus dem Jahre 1564 lohnt sich bereits der Besuch der Bukarester Ausstellung. Es trägt den Titel „L’Asinaria“ und ist als allegorische Darstellung der menschlichen Torheit zu deuten. Vor der Stadtkulisse Roms trampeln Esel auf Attributen der Künste und Wissenschaften herum, entleeren sich gar auf diese, brüllen einander an und beißen sich gegenseitig. Selbst der am Himmel schwebende geflügelte Pegasus, das Sinnbild der Dichtung, entpuppt sich als nichts anderes denn als decouvrierendes Konterfei von Meister Langohr.