Kunst und Faktizität, Ästhetik und Realität, schöner Schein und grausame Wirklichkeit bilden die artistisch-dokumentarischen Spannungspole jener Ausstellung, die derzeit und noch bis zum 27. Januar 2013 unter dem Titel „Goya, der Chronist aller Kriege: Los Desastres de la Guerra und die Kriegsfotografie“ in der Rotunde des Bukarester Nationalen Kunstmuseums zu besichtigen ist.
Goyas aus 82 Druckgrafiken bestehender Zyklus „Die Schrecken des Krieges“, der im zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts im zeitgenössischen Kontext des Spanischen Unabhängigkeitskrieges (1808-1814) entstand, ist in dieser Ausstellung kommentierend, kontrastierend und vielleicht sogar konfligierend mit Dokumentar- und Reportagefotos aus dem Spanischen Bürgerkrieg (1936-1939) kombiniert und präsentiert.
Die Ausstellung, die von ihrem Kurator Juan Bordes in Zusammenarbeit mit dem Cervantes-Institut in Bukarest, dem spanischen Nationalarchiv La Calcografía Nacional und dem Bukarester Nationalen Kunstmuseum konzipiert wurde, ist thematisch gegliedert und wirft in ihrer Juxtaposition von Kunstwerk und Zeitdokument, von Radierung und Reportage, von Druckgrafik und Fotografie Grundfragen einer Ästhetik des Schreckens auf. Die sieben Themenbereiche der Ausstellung sind: Front, Opfer, Exekutionen, Flucht und Plünderung, Hunger, Hypostasen der Frau im Krieg, Nachkriegszeit.
Die ursprüngliche Nummerierung der Druckfolge, die allerdings erst fünfunddreißig Jahre nach Goyas Tod in erster Auflage erschien, stammt vom spanischen Maler selbst, der seinem Freund Ceán Bermúdez zu Lebzeiten noch einen Probedruck des gesamten Radierungszyklus übergeben konnte. Um sich nicht dem Vorwurf mangelnden Patriotismus auszusetzen, verzichtete Goya jedoch zum damaligen Zeitpunkt auf eine Veröffentlichung. Seine politisch neutrale, sich nur auf die Schrecken des Krieges konzentrierende, Franzosen und Spanier gleichermaßen inkriminierende Darstellung hätte ihm gewiss Schwierigkeiten eingebracht, wenn der Grafikzyklus unmittelbar nach seiner Fertigstellung publiziert worden wäre.
Programmatisch am Eingang zur Rotunde des Kunstmuseums hängen Abzüge zweier Druckplatten, die das Thema der Ausstellung gleichsam einrahmen: In der Radierung „Traurige Vorahnung dessen, was kommen wird“ (Nr. 1) kniet eine zerlumpte und zu Tode betrübte Gestalt in der Pose Jesu im Garten Gethsemane auf der Erde, und in der darunter hängenden Radierung „Nichts. Das wird er sagen“ (Nr. 69) liegt ein von Geistern umdrängter Toter auf dem Boden, ein Blatt Papier auf dem Bauch, auf das er, bevor er starb, noch ein letztes Wort geschrieben hat: „Nada“ (Nichts).
Auf dieses doppelte Eingangsemblem folgt dann der siebenteilige Bilderbogen des Krieges, ein Kaleidoskop des Schreckens, ein Reigen der Gräuel, ein veritabler Totentanz, dem nichts heilig ist und der vor gar nichts haltmacht. An der Front gibt es ein Hauen und Stechen mit Axt und Säbel, blutige Zweikämpfe, Rosse stürzen, Verwundete liegen übereinander, Toten werden die Stiefel ausgezogen: „Sie könnten noch von Nutzen sein“, ist das entsprechende Blatt überschrieben. Ein Überlebender erbricht sich auf einen Berg von Leichen (Nr. 12), Tote werden aufgeschichtet, abtransportiert, in ein Massengrab geworfen, und immer wieder stehen einsame Überlebende inmitten verstreut daliegender Kriegsopfer. Auf der Radierung „Arme Mutter!“ wird eine Tote von drei Männern weggetragen, während ihr Töchterchen weinend dabeisteht.
Das Blatt Nr. 26 evoziert Goyas berühmtes Bild „Die Erschießung der Aufständischen“ aus dem Jahre 1808. Im Gegensatz zu diesem Ölgemälde sieht man aber auf der genannten Druckgrafik lediglich die Bajonettspitzen des Erschießungskommandos am rechten Bildrand, während kniende, bittende und betende Gestalten in der Bildmitte ihrem traurigen Schicksal entgegenharren. Lynchmorde, Exekutionen und Vollstreckungen aller Art werden von Goyas Radiernadel festgehalten.
Gefesselte, mit dem Urteil des Standgerichts auf einem Papier um ihren Hals, zu Tode Geprügelte und Geschleifte, Strangulierte und Erhängte, Gepfählte und Aufgespießte, Verstümmelte und Zerhackte kommen auf den einzelnen Druckabzügen zur Darstellung, auf Blatt Nr. 46 wird sogar ein Priester erstochen.
Flüchtlingszüge, Brandschatzungen, Plünderungen, Kirchenräuber mit Altargerät, Kleiderdiebe, Frauen mit Kindern auf dem Rücken und Hausrat unter dem Arm, Hungernde, Darbende, um Nahrung Bettelnde, Entkräftete, den Hungertod Gestorbene bevölkern Goyas Radierungen. Frauen werden dabei nicht nur als Mütter gezeigt, sondern auch als Kämpferinnen: mit Steinen, Lanzen, Säbeln und sogar als Feuer an die Lunte legender Kanonier.
Auf Blatt Nr. 9 versucht ein Soldat einer Frau Gewalt anzutun, während sich von hinten eine Ältere mit einem Dolch an den Vergewaltiger heranschleicht. Die dokumentarischen Fotos aus dem Spanischen Bürgerkrieg, die auf Informationstafeln neben den Radierungen Goyas zu finden sind, zeigen spanische Frauen ebenfalls in verschiedenen Hypostasen: als Flüchtende, als einsam in Ruinen Stehende, als Mütter, als um Nahrung Bettelnde, als Gewehrschützen auf Barrikaden, aber auch als getötete und geschändete Opfer.
Während die Ausstellung die Radierungen Goyas in größtmögliche Distanz zu den ebenfalls als Exponaten präsentierten Kriegsfotografien rückt, beschreitet der Katalog zur Ausstellung den schmalen und abschüssigen Grat zwischen Künstlerischem und Dokumentarischem, indem er Goyas Radierungen direkt und unmittelbar neben reale Kriegsszenen setzt: künstlerisch inszenierte Pose und dokumentarische Wiedergabe, etwa eines standrechtlich Ermordeten oder einer Vergewaltigten, verschwimmen ineinander, Grenzen zwischen Kunst und Leben verfließen, der Schrecken beginnt seine Ästhetik zu entfalten.
Dabei stellt sich nicht nur die Frage, ob Kunst dokumentarisch oder Dokumentarfotografie künstlerisch sein darf oder soll, sondern zugleich die weiterreichende Frage, ob Kunst und Fotografie, indem sie reales Leiden künstlerisch überhöhen, nicht gerade aus dem Schrecken künstlerisches Potenzial schlagen – eine Frage, die man auch an die Literatur stellen kann, etwa an Ernst Jüngers Frühwerk oder auch an das Oeuvre des frisch gekürten Literaturnobelpreisträgers Mo Yan aus China, zum Beispiel an seinen Roman „Das rote Kornfeld“.
Die Goya-Ausstellung im Nationalen Kunstmuseum wartet in ihrer letzten thematischen Rubrik „Nachkriegszeit“ hauptsächlich mit Tierallegorien auf, die die Schrecken des Krieges, wie sie in „Los Desastres de la Guerra“ zur Darstellung kommen, zwar nicht vergessen machen, aber ins Allgemeine und Gleichnishafte erheben und entrücken.
Ein riesenhafter aasfressender Geier wird von einer Menschenmenge vertrieben, monströse schwarze Fledermäuse stürzen sich auf Leichen, ein weißer Schimmel schlägt gegen eine ihn umringende Hundemeute aus, eine große Eule attackiert eine sphinxgleich daliegende Katze, und dem Maul eines schlafenden Tapirs entquellen nackte Menschenleiber, an denen sich das herbivore Tier überfressen hat und die es niemals wird verdauen können. Ein tieferes Symbol für die nie zu bewältigenden Schrecken eines jeden Krieges kann es kaum geben!