Ein Team aus Künstlern und Programmierern in Rumänien und Großbritannien hat in den letzten Monaten ein Videospiel entwickelt, das zeigt, wie das Leben vor dem Internet aussah. „Life Before Internet“ ist besonders für diejenigen gedacht, die im digitalen Zeitalter geboren wurden, und erzählt die Geschichte eines Teenagers, der ohne Technologie lebt.
Eines Tages lag es auf der Schulbank eines Kollegen. Ein großes, gelbes Gerät mit schwarzen Tasten, einer Antenne und einem winzigen Bildschirm. Es war ein Alcatel-Mobiltelefon, das erste Handy, das ich jemals gesehen hatte. Es war 1998.
Der Kollege schrieb uns seine Nummer auf und wir konnten ihn wirklich anrufen, auch wenn er auf der Straße war. Zwar war telefonieren noch furchtbar teuer, aber wir fanden es faszinierend. Was am interessantesten war: auf dem winzigen Bildschirm erschien die Nummer, die ihn anrief.
Wir waren neidisch. Falls man damals jemanden vom Festnetz-Telefon im Wohnzimmer anrief, musste man zuerst warten, dass alle aus dem Zimmer gingen, damit man ein einigermaßen privates Gespräch führen konnte. Ging das nicht, brauchte man genügend Münzen für die blaue Telefonzelle neben der Busstation.
Dann wählte man die Nummer und in 98 Prozent der Fälle nahm ein Erwachsener am anderen Ende der Leitung den Hörer ab. „Hallo, Familie Popescu? Mihai am Telefon. Könnte ich Irina sprechen?“
Für Teenager aus dem Jahr 2020, einer Zeit, in der jeder per WhatsApp, Facebook Messenger oder Facetime zu jeder Zeit erreichbar ist, ist die oben beschriebene Szene unvorstellbar.
Erinnerungen aus der analogen Zeit
Mit Sicherheit haben die meisten von uns in den letzten Monaten versucht, sich vorzustellen, wie es gewesen wäre, wenn die Coronavirus-Pandemie vor der Internet-Ära, also vielleicht Anfang der 90er Jahre, stattgefunden hätte. Ohne die Möglichkeit, von zu Hause zu arbeiten oder Online-Unterricht abzuhalten. Ohne Netflix, mit dem der Lockdown leichter zu ertragen ist. Ist ein Leben vor dem digitalen Zeitalter noch vorstellbar? In einer Zeit, in der Menschen überfahren werden, weil sie mitten auf der Straße auf ihrem Smartphone auf Monsterjagd gehen oder ihr Leben riskieren, um ein spektakuläres Selfie zu machen, das Hunderte von Likes auf Facebook und Instagram erntet, wohl kaum.
Und doch gab es eine Zeit, in der man Leute nach dem Weg fragen musste und nicht Google, in der man es schaffte, ohne Navigations-Apps in eine fremde Stadt zu gelangen, in der man nicht dauernd auf Tripadvisor nach dem besten Restaurant suchen musste, sondern sich einfach in das erste, das man sah, hineinsetzte und in der man seinen Lieblingssong nicht jederzeit auf YouTube abrufen konnte, sondern tagelang warten musste, bis er im Radio kam.
Es gab auch Serien, aber die konnte man nicht in einer einzigen Nacht sehen, sondern man musste eine Woche lang auf die nächste Folge warten. Man hatte nur 36 Aufnahmen auf einem Fotofilm und überlegte es sich zehn Mal, bevor man fotografierte.
Und man konnte sich ohne Smartphone mit Leuten in der Stadt verabreden. Die Entzugserscheinungen und das Panikgefühl, wenn man sein Handy zu Hause vergessen hatte, kannte man auch nicht.
Eine verschwundene Welt
Für diejenigen, die im analogen Zeitalter aufgewachsen sind und denen die oben beschriebenen Szenen sehr bekannt klingen, aber besonders für die Jugendlichen der Generation „Digital Natives“, hat in der Pandemiezeit ein Team von Künstlern und Programmierern ein Videospiel geschaffen, mit dem man einen Tag aus dem Leben einer 17-Jährigen im Rumänien des Jahres 1994 erleben kann: „Life Before Internet“.
Die Arbeit am Projekt begann mit einer Etappe der Dokumentation. Dabei haben die Künstler, die alle im Jahr 1994 entweder Kinder oder Jugendliche waren, ihre eigenen Erfahrungen, aber auch Erinnerungen ihrer Freunde und Bekannten gesammelt. Es wurden nicht nur Geschichten zusammengetragen, sondern auch Fotografien, Zeitschriften, Audiokassetten und Kommunikationsmittel aus den 90er Jahren wie Pager, Festnetztelefon, Fax, Briefe, Telegramme, Disketten, Walkmans, Videokonsolen. Die Autoren des Spiels haben sich vorgenommen, eine verschwundene Welt wieder zu erschaffen, an die erinnert werden muss.
Die Protagonistin des Spiels ist Irina, eine 17-jährige Jugendliche, die in einer Provinzstadt lebt. Ihr Abenteuer beginnt an einem Novembertag im Jahr 1994.
Was muss man als Spieler tun? Es ist einfach: mit den Instrumenten von damals Probleme lösen, die man heute mit einem einzigen Klick erledigen kann. Wegen Familie und Nachbarn verpasst du die letzte Folge der Serie „Beverly Hills”, die nur sonntags ausgestrahlt wird. Du kannst nicht mit deiner besten Freundin telefonieren, ohne dass alle im Haus dir zuhören. „‘Life Before Internet‘ rekonstruiert die Jahre, bevor wir E-Mail und Smartphone hatten, und das Lebenstempo von damals, damit wir besser verstehen können, wie stark wir uns verändert haben”, erklären die Initiatoren des Projekts, das vom Programm „Acces Online” des Kulturministeriums und der Verwaltung des Nationalen Kulturfonds (AFCN) finanziert wurde.
Diejenigen, die das Videospiel ausprobieren, werden verschiedene Lebenssituationen durchmachen: sie müssen Geldscheine in Münzen wechseln, um telefonieren zu können, sich auf den Straßen einer fremden Stadt verirren, das Band einer Audiokassette mit dem Bleistift aufdrehen oder „Tetris“ spielen, damit die Zeit schneller vergeht.
Kostenloses Videospiel
Sechs Künstler haben die Abenteuer Irinas in Zeichnungen umgewandelt und dabei nicht nur ihre Phantasie benutzt, sondern auch Archivaufnahmen und Fotografien aus den 90er Jahren, rekonstruierte Räume und auch aktuelle Fotos mit Orten und Gegenständen, die seit fast 30 Jahren unverändert geblieben sind. Die Geschichte von Irina wurde von Mona Bozdog, Dozentin für Immersive Experience Design an der Abertay-Universität in Schottland und Smaranda Nicolau, Drehbuchautorin, erfunden. Der Soundtrack des Spiels wurde vom Musiker Sillyconductor komponiert. Ebenfalls am Projekt gearbeitet haben der Programmierer Cătălin Boitor und die bildenden Künstler Lucian Lupu, Adrian Cârciova, Fabiola Pascu und Irisz Kovacs. Kuratorin und Produzentin des Spiels „Life Before Internet“ ist die Regisseurin Ioana Păun. „1994 ist eins der letzten Jahre ohne Internet in Rumänien. Wir haben an das Ende einer Epoche und an den Beginn einer neuen Epoche gedacht. Der Epilog des Projekts ist eigentlich der Schlüssel zur Interpretation, weil wir mit künstlichen Intelligenz gearbeitet haben. Eigentlich ist das ganze Projekt ein Paradox, es handelt über das Leben vor dem Internet und wurde zum großen Teil online geschaffen“, erklärt sie. Das Videospiel „Life before Internet“ ist kostenlos unter www.lifebeforeinternet.ro/play/ erhältlich und bietet ein interaktives nostalgisches Abenteuer in einer Welt, in der die Zeit langsam voranschreitet, es keine Gegenmittel für Langeweile gibt, Entfernungen nur schwer überbrückt werden können und man trotzdem optimistisch in die Zukunft blickt. Wer ein spektakuläres Spiel mit grandioser Grafik und viel Adrenalin erwartet, ist hier falsch. „Life Before Internet“ ist nicht zur Unterhaltung gedacht, sondern als Spiel, das eine Geschichte erzählt und aus dem man lernen kann, wie man früher lebte.