Im Garten des Hauses, in dem der Erzähler in Eginald Schlattners neuem Roman „Brunnentore“ aufwächst, gibt es ein unscheinbares Wasserloch. In den Augen der Erwachsenen ist es ein Tümpel oder Weiher, doch für den Erzähler, der sehnsüchtig auf seine Einschulung wartet, und seinen zwei Jahre jüngeren Bruder Kurtfelix scheint es „das Brunnentor in rätselhafte Gründe“ zu sein – das Tor, das sie in die Märchenwelt der Frau Holle führt, wohin sie fliehen können, wenn die Wirklichkeit der Erwachsenen schwer zu ertragen ist. Doch während Kurtfelix sich mit Goldmarie identifiziert, sieht sich der Erzähler eher in der Rolle der Pechmarie. „Während ich – war es ein Vorgefühl eines Schicksals, das sich bereits in der Kindheit andeutete? – mein Los abgebildet sah in dem, was der Pechmarie zustieß. Nicht, weil ich mich ihr im Wesen ähnlich dünkte, sondern als Ahnung, als Besorgnis.“
Somit sind wir mittendrin, in dem, wovon der Roman erzählt. Es sind die Jahre der frühen Kindheit und die durch die Erwachsenenwelt und durch zeitgeschichtliche Umstände und Zumutungen erlebte Wirklichkeit, die nach Meinung des Erzählers seinen weiteren Lebensweg mitgeprägt haben. Der Roman handelt daher folgerichtig hauptsächlich von der kindlichen Erlebniswelt, lässt es aber nicht dabei bewenden, sondern auch den erwachsenen Erzähler zu Wort kommen. So wechselt der Roman geschickt zwischen dem erlebenden und dem erzählenden Ich, fügt – je nach Perspektive – Vor- bzw. Rückblenden hinzu, ordnet das Erlebte in historische Ereignisse ein.
Damit hat der Autor laut eigener Aussage nach zahlreichen autofiktionalen Romanen seine komplette Vita literarisch aufgearbeitet und mit diesem beachtenswerten Schlussstein abgeschlossen.
Zu Beginn der Handlung befinden wir uns Ende der 30er- Jahre in der kleinen Stadt Szentkeresztbánya, auf Deutsch Karlshütte, im sogenannten Szeklerland, einer ungarisch geprägten Region von Siebenbürgen. Der Roman endet mit dem Wiener Schiedsspruch 1940, als Nordsiebenbürgen von Rumänien abgetrennt und Ungarn zugesprochen wird. Es ist ein Ort mit einer großen Fabrik, einem Eisenwerk, in dem es neben den ungarischen Fabrikarbeitern die sogenannte deutsche Kolonie der Beamten gibt. Der wichtigste Beamte ist der Vater des Erzählers. Als Reiseingenieur ständig unterwegs, entfremdet er sich zunehmend seiner Familie. Trotzdem versucht der Erzähler seinem Vater gerecht zu werden, indem er aufzählt, was ihm u. a. durch Krieg, Zwangsarbeit im Donbass, bis hin zur Enteignung einer eigenen Firma alles widerfahren ist.
Innerhalb der deutschen Bevölkerungsgruppe kennt man sich, verbringt seine Freizeit miteinander, auch die Mutter des Erzählers lädt oft zu einem Teekränzchen ein. In diesem Zusammenhang wird der aufkommende oder bereits existierende Antisemitismus beschrieben, als nämlich die jüdische Frau des Fabrikdirektors bei den Damen nicht willkommen ist.
Die beiden Jungen wachsen in einem gut bürgerlichen Milieu auf, umsorgt von der kreativen Mutter, die viel und gerne singt, der Köchin und dem Dienstmädchen, mit Besuchen bei Großeltern in Hermannstadt/Sibiu und Großtanten in der Sommerfrische von Freck/Avrig. Das elterliche Haus stand stets willkommen geheißenen Besuchern offen, an die sich der Erzähler erinnert, wenn er schreibt: „Wieder flattert eines jener Luftbilder herbei, an das ich mich illustrativ erinnere.“
Trotz der vielen Abwechslungen, die ihm zu Hause geboten werden, verbringt der Erzähler seine Zeit in Szentkeresztbánya am liebsten mit ungarischen Spielkameraden, vor allem mit seiner ersten kindlichen Liebe, dem Mädchen Irénke. Obwohl er einer anderen Schicht angehört, akzeptieren ihn die ungarischen Spielkameraden, weil er damals zwar noch nicht Rumänisch spricht, aber neben seiner Muttersprache Deutsch auch Ungarisch. Dennoch entsteht in jener Zeit gerade wegen der ungarischen Umgebung seine Identität.
„Wie wusste ich, dass ich ein Siebenbürger Sachse war? Geschärft wurde in jenem Landstrich, genannt Székelyföld, das Gespür für das Eigenartige meiner selbst eben durch die Andersartigkeit derer um mich, und daraus entspross das Bewusstsein der Identität.“
Jede Zeit hat ihre Sprache. So kann ein junger Erzähler politische Ereignisse und Veränderungen zwar nicht durchschauen, ihre Folgen aber durchaus kennenlernen. Auf genau dieses erzählerische Mittel greift Eginald Schlattner zurück, wenn er den Erzähler bei der Großmutter in Hermannstadt über die Vielfältigkeit der Menschen und somit ihrer Sprachen reden lässt.
„Die Umgangssprache im Hof war Deutsch, das war erholsam und man konnte immer mithören und mitreden. Aber jeder im Hof hatte noch eine andere Sprache, für den Hausgebrauch: seine Mundart. Vom Kucheldeutsch bis zum Letzeburgischen. … Überhaupt: Die Sprache war in Siebenbürgen wie ein Regenbogen. Wenn man jeder Sprache eine Farbe gäbe – Deutsch: Blau.“
Auch das Aufkommen des Nationalsozialismus beschreibt er – neben der „Heil- Hitler-Tante“ Maly – anhand der Sprache. Zwar gibt es Begriffe der Erwachsenen wie Machtergreifung, Sturmabteilung usw., die die Kinder nicht begreifen, aber dass Potschamberl zum Nachttopf, Bizykel zum Zweirad und Draisine zum Handhebelwagen wird, verstehen sie schon. Das heißt, eigentlich verstehen sie es nicht und benutzen weiterhin die alten Begriffe.
„Es mochte so gewesen sein. Es muss nicht so gewesen sein.“ Immerhin sind achtzig Jahre vergangen. Viele Erinnerungen kommen beim Betrachten von Fotos wieder zurück. Erinnerungen, die über das eigentliche Dargestellte hinausgehen. Da gibt es ein Foto, aufgenommen in Freck, in dem der traurige Gesichtsausdruck der Mutter den Erzähler an die Untreue des Vaters erinnert. Ein anderes Foto, aufgenommen vor dem Justizpalast, spricht seine Sprache bis ins Hintergründige. Womit der erwachsene Erzähler seine Verurteilung, die Securitate-Haft und den Prozess meint, von denen er in seinem Buch „Rote Handschuhe“ berichtet.
Das alles ahnt der junge Erzähler nicht, als er am Ende des Buches mit den Eltern 1940 nach dem Wiener Schiedsspruch mit Sack und Pack nach Kronstadt/Brașov umziehen muss, wo ihm der Vater einen Zettel um den Hals hängt, auf dem stand: „Nu vorbește românește.“ Er kann kein Rumänisch. Er wird noch viel lernen und erleben, bis er von dem berichten kann, wovon der Roman manchmal leicht melancholisch erzählt. Beispielsweise, wenn der alte Erzähler schreibt, er sei mitgenommen von den Bildern jener Zeit und alles tue ihm weh zwischen Gedächtnis und Phantasie. „Jetzt im hohen Alter befällt mich eine nahezu verstiegene Sehnsucht nach Menschenkindern, die nicht mehr sind.“ Auch bedauert er den Weggang so vieler Siebenbürger Sachsen. „Ich selbst bin hier der letzte Pfarrer.“
Es ist ein sehr lesenswerter Roman, in dem die westdeutsch sozialisierte Rezensentin viel über die Zeitgeschichte in Siebenbürgen und deren Bewohner erfährt. Und über einen Autor, dessen umfangreiches Lebenswerk mit „Brunnentore“ einen gebührenden Abschluss findet.