Viele Wörter verlieren im Lauf ihres Lebens ihren Glanz, ihren Reichtum, ihre Unschuld. Dazu zählt seit einiger Zeit auch das schöne Wort „Corona“, dessen Bedeutungsvielfalt neuerdings auf ein Virus zusammengeschnurrt ist, welches dem ungläubigen Betrachter als rundes raumschiffähnliches Gebilde mit zahlreichen Andockstellen in zumeist gefährlich wirkendem Rot präsentiert wird, auch wenn diese grafische Wiedergabe einer atomgenauen 3D-Darstellung von Sars-CoV-2 in keiner Weise entspricht.
Vergessen sind die lateinischen Bedeutungen von Corona als Kranz, Ring, Kreis und Krone, vergessen das als Corona bzw. Geison bezeichnete Kranzgesims antiker Tempel, vergessen die heilige Corona, die frühchristliche Märtyrerin und Schutzpatronin des Geldes und der Schatzgräber. Vergessen der Heiligenschein, der Strahlenkranz der Sonne, ja selbst die fröhliche Runde, die als ausgelassene Korona etwas feiert. Und wer denkt schon an Paul Celans Gedicht „Corona“ aus dem Jahre 1948, über das Ingeborg Bachmann dem von Czernowitz über Bukarest und Wien in den Westen gelangten Geliebten am 24. Juni 1949 in einem Brief nach Paris schrieb: „Ich habe oft nachgedacht, ‘Corona’ ist Dein schönstes Gedicht, es ist die vollkommene Vorwegnahme eines Augenblicks, wo alles Marmor wird und für immer ist.“
In Zeiten solcher Wortvergessenheit ist es vielleicht gut, sich an Dinge zu erinnern, die den Namen „Corona“ tragen und schönere Assoziationen wachrufen als an die durch besagtes Virus verursachte Infektionskrankheit. Zu diesen schönen Dingen zählt etwa die Zeitschrift „Corona“, die vor neunzig Jahren zum ersten Mal erschien, gedruckt 1930 in München „auf Zanders Federleicht Papier“, in bewusster Abgrenzung zum gewöhnlichen Papier der alltäglichen Zeitungen und Journale.
Das in den Jahren von 1930 bis 1943 als Zweimonatsschrift im Verlag der Bremer Presse in München und Zürich erschienene Literatur-Organ, das von Martin Bodmer und Herbert Steiner herausgegeben wurde, war eine Ausnahmeerscheinung in der Kultur- und Presselandschaft des Dritten Reiches. „Da die Corona ein deutsch-schweizerisches Unternehmen war, und da sie mit Schweizer Franken finanziert wurde, war es ihr möglich, ihre Konzeption auch nach 1933 aufrechtzuerhalten, sodass sie nicht nur im Zeitschriftenwesen, sondern auch im literarischen Leben des Dritten Reiches eine bemerkenswerte Sonderstellung einnahm.“ Diese Ausführungen der Germanistin Marlene Rall in ihrer Tübinger Dissertation aus dem Jahre 1972 wären noch dahingehend zu ergänzen, dass die Zweimonatsschrift „Corona“ sich von Anfang an als Ergänzung der Bibliothek panhumanistischer Weltliteratur im goetheschen Sinne verstand. „Weltliteratur bedeutet für Goethe aber auch jenes Ewige im Menschen, von dem sich das Nationale und Persönliche nur als Variation eines Grundthemas darstellt“ – so der „Corona“-Herausgeber Martin Bodmer. Und der zweite „Corona“-Herausgeber Herbert Steiner war in seiner Jugend brieflich mit Rilke und persönlich mit George bekannt und fungierte außerdem als Bibliograf und Herausgeber von Werken Hugo von Hofmannsthals. Nicht von ungefähr konnten die beiden „Corona“-Herausgeber Geistesgrößen wie Rudolf Borchardt oder Rudolf Alexander Schröder für Beiträge gewinnen und damit auf einen an literarischer Distinktion interessierten Leserkreis abzielen, der sich dem Kulturverständnis einer geistigen Elite verpflichtet fühlte.
Nimmt man das erste „Corona“-Heft des ersten Jahrgangs vom Juli 1930 in die Hand und öffnet das bibliophile Buch, so weiß man unmittelbar, in welchen geistigen Raum man eingetreten ist. Hundertundzwanzig Seiten reiner Text, als einziges grafisches Element die großen Initialen der sieben Prosatexte und sieben Gedichte, als handle es sich um Residuen der handgemalten Ziermajuskeln alter Inkunabeln, als erschiene leibhaftig „des Dastehns großer Anfangsbuchstab“ aus Rilkes fünfter Duineser Elegie.
Selbst die vierzehn Seiten Buch- und Verlagsanzeigen am Ende des Bandes gemahnen an die kulturelle Höhenlage, die der Leser in Gegenwart dieses Buches zu erklimmen hat: kostbare Handschriften, dekorative Stiche, schöne Einbände und orientalische Miniaturen bei Maggs Brothers (London), klassische Werke der alten und neueren Literaturen bei Jacques Rosenthal (München), Hinweise auf Zeitschriften wie „Europäische Revue“ (Berlin) und „Zeitenwende“ (München), Ankündigungen von Rudolf Borchardts Dante-Übertragungen im Rowohlt Verlag (Berlin) und, neben vielem anderen, Anzeigen von Anthologien wie etwa der von Rudolf Borchardt besorgten mit dem Titel „Der Deutsche in der Landschaft“.
Das erste Heft des ersten „Corona“-Jahrgangs setzt ein mit dem Abdruck des Anfangskapitels aus dem Roman „Andreas“ von Hugo von Hofmannsthal, der zwischen 1907 und 1927 entstand, Fragment blieb und sukzessive aus dem Nachlass des Dichters publiziert wurde. Hugo von Hofmannsthal war ein Jahr vor der erstmaligen Veröffentlichung des Romananfangs an einem Schlaganfall gestorben, den er am Tag der Beerdigung seines Sohnes Franz am 15. Juli 1929 erlitten hatte.
Auf dieses längere Romanfragment folgen im ersten „Corona“-Heft dann sechs Gedichte von Rainer Maria Rilke, aus dem Nachlass des Dichters ausgewählt von Ruth Sieber-Rilke und Carl Sieber. Das zweite aus den späten Schweizer Jahren des Dichters enthält folgende wunderschöne Strophe: „Wieviel ist aufzuleiden. Wann war Zeit, / das andre, leichtere Gefühl zu leisten? / Und doch erkenn ich, besser als die meisten / einst Auferstehenden, die Seligkeit.“
Darauf folgt eine Gedenkrede Rudolf Alexander Schröders, die dieser im November 1928 auf den zwei Jahre zuvor verstorbenen Rainer Maria Rilke gehalten hatte und in der er neben dem berühmten „Deutsch-Böhmen“ zugleich Hugo von Hofmannsthal und, als Dritten im Bunde, Stefan George als die „dichterischen Repräsentanten unserer deutschen Gegenwart“ wie auch als „Dichter europäischen Rufes“ feiert.
Aufzeichnungen von Paul Valéry in der Übersetzung durch Herbert Steiner schließen sich daran an: Aphorismen, Gedankensplitter, Reflexionen, Geistesblitze. So etwa folgende Introspektion: „Unduldsame Begier nach dem, was meiner würdig ist: niemals nach einem Etwas, aber danach, dass es in meiner Kraft steht, es zu tun – und vor allem, es nicht zu tun.“
„Jaakobsgeschichten“ von Thomas Mann bilden den nächsten Beitrag im ersten „Corona“-Heft vom Juli 1930. Es handelt sich um die drei Geschichten „Von Gottes Eifersucht“, „Von Rahels Verwirrung“ und „Von den Dudaim“, die zum Umkreis der Roman-Tetralogie „Joseph und seine Brüder“ gehören, deren erster Band im Oktober 1933 bei Samuel Fischer in Berlin veröffentlicht wurde, nachdem der Literaturnobelpreisträger Hitlerdeutschland bereits den Rücken gekehrt hatte.
Ein Essay des britischen Schriftstellers und Biografen Lytton Strachey über David Hume setzt den Reigen der ersten „Corona“-Beiträge fort. In diesem Beitrag stehen die folgenden markanten Sätze über den schottischen Philosophen, Ökonomen, Historiker und Vordenker der Aufklärung, der 1711 in Edinburgh geboren wurde und 1776 ebendort starb. David Humes Lebensgeschichte „zerfällt in drei Abschnitte: Jugend, Reife, Ruhe. Der erste war der wichtigste. Wäre Hume mit sechsundzwanzig Jahren gestorben, sein wahrhaftes Werk auf Erden wäre vollbracht und sein Ruhm unwiderruflich gegründet gewesen.“
„Lichterblickungs Lied“ von Rudolf Borchardt, ein Beitrag des bedeutenden Romanisten und Dante-Forschers Karl Vossler über den spanischen Literaturnobelpreisträger Jacinto Benavente sowie ein Aufsatz des Essayisten, Kritikers und Nietzsche-Forschers Josef Hofmiller über die Benediktinerabtei Ottobeuren, der sich vor allem dem architektonischen Raumeindruck der Basilika und dem dortigen höchst kunstvollen Chorgestühl widmet, beschließen dieses erste Heft der Zweimonatsschrift „Corona“, das den Strahlenkranz der Kultur in der Dunkelheit der Zeitläufte, der damaligen wie der heutigen, hell leuchten lässt.