Als der Bürgerkrieg beginnt, soll der junge Syrer Bassel in Assads Armee einrücken. „Aber die eigenen Leute umbringen? Bruder gegen Bruder?“ – das ist für den 23-Jährigen unvorstellbar. Da taucht in Damaskus ein Abgesandter aus Abchasien auf und verspricht den syrischen Tscherkessen, zu denen Basse zählt, allerlei Unterstützung, wenn sie ihm in sein seit den Sezessionskriegen der 1990er dünn bevölkertes Land folgen. Ein Land wohlgemerkt, das von den allermeisten Staaten der Erde als okkupiertes georgisches Gebiet betrachtet wird, das aber etwa in der Region liegt, aus der die Vorfahren von Bassel stammten: Die Tscherkessen waren während der russischen Expansion Mitte des 19. Jahrhunderts zu Hunderttausenden aus ihren Dörfern im Kaukasus vertrieben worden. Wer die Gewaltmärsche und die Fahrt über das Schwarze Meer überlebte, siedelte sich etwa auf den Golanhöhen an, wo Bassels Großvater geboren wurde. 1967 floh die Familie vor dem Sechstagekrieg nach Damaskus, das ihnen zur Heimat wurde – bis der blutige Bürgerkrieg sie wiederum zur Flucht zwang. Dieses Mal rettete die ethnische Zugehörigkeit Bassels Familie wahrscheinlich das Leben – viel mehr als das aber auch nicht: Die einst mittelständische Familie aus einer Millionenstadt lebt nun in der ehemaligen Kolchose eines abgelegenen abchasischen Dorfes. Bassel hat als einziger Arbeit gefunden – wo er Russisch gelernt hat, die Sprache jener, die seine Vorfahren vor über 150 Jahren massakriert und vertrieben haben.
„Schwere See“ von Jens Mühlich ist voller solch verschlungener Geschichten: Während seiner achtmonatigen Reise um das Schwarze Meer begegnete er nicht nur Tscherkessen aus Damaskus, sondern auch ukrainischen Tataren und den Nachkommen Saporoger Kosaken; Angehörigen der mit georgischen Mingrelen verwandten türkischen Lasen; georgischen Mescheten, die erst nach und später aus Usbekistan vertrieben worden waren; oder Griechen, die Türkisch sprechen und in Russland leben. Schnell wird klar, dass die Illusion, Völker könnten feinsäuberlich in Staaten eingeteilt werden, in dieser Region kleiner und kleinster Ethnien besonders brüchig ist. Stattdessen werden hier zahllose Geschichten von Vertreibung und Flucht, Abschied und Neubeginn erzählt.
Aber nicht nur von den Wanderbewegungen der Menschen erzählt Mühling kenntnisreich, sondern auch von der Reise der Sardellen oder der Jasons und der Argonauten. Er erklärt, zu welch fragwürdigen Zwecken westafrikanische Affen in das Forschungszentrum einer kleinen Küstenstadt gebracht wurden, und von den ebenso fragwürdigen Reisen, auf die ein georgischer Oligarch jahrhundertealte Bäume schickt. Von der einzigartigen Wasserarchitektur des Schwarzen Meeres, die dazu führt, dass die Tiefen des Meeres nicht mit Leben, sondern mit giftigem Gas gefüllt sind – und daher auch die ältesten und am besten erhaltenen Schiffswracks der Welt enthalten. Städte scheinen hier zu reisen – die Küstenstadt Batumi etwa befand sich bereits in Georgien, im Osmanischen und Russischen Reich, in der türkischen Republik und in der Sowjetunion. Der blinde Passagier, der in einer Holzkiste voller transsilvanischer Erde von England über das Schwarze Meer nach Gala]i reist, findet ebenso Erwähnung wie der „irre Honig“ aus dem türkischen Hochland, der aus einer Nervengift enthaltenden Rhododendronart gewonnen wird und angeblich auf wilde Reisen im eigenen Kopf schicken kann.
Dass man als Leserin nicht müde wird, diesen verworrenen Fäden zu folgen, verdankt sich der Qualität von Mühlings Erzählen: Die Grundstruktur des Bandes ist von der Reiseroute des Autors bestimmt, aber wie dieser unternimmt der Text spontane Schlenker in jede Richtung, die Interessantes verspricht. Wenn Mühling im Hotel „Nuh“ übernachtet, führt der Name dieser Figur aus dem Koran zu der in zahlreichen Versionen erzählten Legende von der großen Flut und der Rettung durch eine Arche – in der Bibel bekannt als Arche Noah. Dies wiederum führt zu den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen und Theorien zur Entstehung dieses Meeres. Der Text bedient sich dabei allerlei Genres – poetisch angehauchte Landschaftsbeschreibungen fehlen ebenso wenig wie seltsame Dialoge oder Exkurse in die Biologie oder Literatur.
Von großem Vorteil sind die Sprachkenntnisse des Autors: Diese erlauben ihm, die Menschen, die ihm unterwegs begegnen (oder die er gekonnt erfindet) selbst erzählen zu lassen, was nur manchmal durch die in der Geschichtswissenschaft anerkanntere Version ergänzt wird. Angenehm ist dabei, dass die Gesprächspartner zwar manchmal Anlass zu Ausflügen in die Geschichte ihres Volkes geben, aber nicht als „typische Vertreter“ dessen vorgeführt werden, was das Lesepublikum sich unter einer Russin, einem Georgier oder auch Rumänen vielleicht vorstellen mag. Der Gestus des aufgeklärten Westlers, der loszieht, um das kuriose Fremde zu erkunden, bleibt aus. Stattdessen anerkennt der Erzähler, dass ihm vieles unverständlich bleibt, dass manche Mauern nicht durch ein Gespräch niedergerissen werden können. Dem Autor wie Leser dient der Text aber auch zur Selbstreflexion, zum Nachdenken über Europa: Der Kontinent wurde durch diese Region weitaus stärker geprägt, als es wohl den meisten bewusst ist.
Kurz: Das Buch ist unterhaltsam erzählt, gespickt mit spannenden Informationen und insgesamt recht großartig zu lesen. Man will es höchstens weglegen, um sich nochmal die Karte genauer anzusehen oder eine der Ungeheuerlichkeiten der Geschichte nachzuschlagen, an die der Text anstreift. Zwar ist es etwas selbstquälerisch, sich in Zeiten geschlossener Grenzen ein Reisebuch anzutun, aber besseren Ersatz für das persönliche Erkunden der Schwarzmeerregion als diesen Band wird man kaum finden.