England verlässt in diesen Wochen die EU, aber britische Kunst ist bei uns allgegenwärtig. Der Sammlung der Deutschen Bank ist es gelungen, wesentliche Werke der britischen Bildhauerkunst von den 1950er Jahren bis zur Gegenwart aus der Tate Collection London in die Räume des neu eröffneten PalaisPopulaire Unter den Linden zu holen. Die insgesamt 70 Werke bieten zwar keine Geschichte der britischen Skulptur im 20. Jahrhundert, doch vermag die nach Stilen, Richtungen, Materialien und Themen strukturierte Auswahl Anregungen zur Auseinandersetzung mit britischer Plastik und Objektkunst unserer Zeit zu bieten. Frei können sich die Besucher vor, um und zwischen den Werken bewegen.
Den Auftakt der eindrucksvollen Schau bilden drei Werke: „Four-Piece Composition: Reclining Figure“ (1934) von Henry Moore (eines der ersten Beispiele dafür, wie Moore den menschlichen Körper in einzelne Teile gegliedert hat), „Marine Object“ (1939) von Eileen Agar (eine griechische Amphore wird mit einem Widderhorn, einem Seestern und einem Meeresskelett zu einer surrealen Collage kombiniert) und „Sculpture of Colour (Deep Blue and Red)“ (1940) von Barbara Hepworth (die abstrakte Ovalform, die an Höhlen und Muscheln erinnert, verleiht der Skulptur gleich zwei Zentren). Das sind keine Skulpturen im herkömmlichen Sinne mehr, sondern Objekte, die wie Fundstücke anmuten, neue Möglichkeiten skulpturaler Formfindungen aufzeigen. Die Skulptur steigt vom Sockel und entfaltet sich im Raum. Und so geht es dann auch in den weiteren Werken um Objekte, Materialkombinationen, Environments, Installationen, Assemblagen, mögen sie nun real oder fiktional, natürlich oder künstlich sein. Ihre Proportionen, Materialien, Techniken und Zusammenhänge lassen uns staunen, wecken unseren Drang, hinter das Geheimnis zu kommen, ihre „Philosophie“ zu entdecken.
Robert Adams, Kenneth Armitage, Elisabeth Frink, Bernard Meadows und William Turnbull sahen sich mit der Unsicherheit und Krisenanfälligkeit der konfliktreichen Nachkriegszeit konfrontiert. Sie wandten sich der Abstraktion zu und vermieden das rein Figurative. Und trotzdem suchten sie mit ihren Symbolisierungen der menschlichen Seele schwierige Lebenssituationen zu überwinden. Paolozzis „brutalistische“ Skulpturen – eine große Retrospektive zeigte erst die Berlinische Galerie im vergangenen Jahr - lassen an Science-Fiction-Monster, an Golem- und Maschinen-Menschen, an ausgebrannte Roboter denken, deren technische Eingeweide zu bizarren Formen zerschmolzen sind. Eine erneuerte optimistische Auffassung der Welt wurde von den Künstlern der 60er Jahre vertreten. Zurückgreifend auf den Konstruktivismus und De Stijl, experimentierten Victor Pasmore, Kenneth Martin und Mary Martin mit neuen Industriematerialien. Kenneth Martins sanft rotierende Mobiles und Pasmores und Mary Martins transparente und reflektierende Oberflächen sind auf Zwiesprache mit dem Betrachter angelegt. Stephen Willats „Light Modulator No. 2“ (1962) ist das Modell für eine Skulptur im öffentlichen Außenraum, bestehend aus beweglichen, vertikalen Panels, durch die man hindurchgehen und deren Konstellation man verändern kann. Mit modularen Formen – Kuben und Serien von Dreiecken, die in unterschiedliche Richtungen gedreht wurden („Lovers“, 1968), – beschäftigte sich Rasheed Araeen, während Kim Lim leiterähnliche Elemente anfertigen ließ, die Licht und Schatten des Raums zwischen ihren Sprossen aktivieren und den Raum zu einer greifbaren Realität machen („Intervals II“, 1973). Anthony Caro verwendete seit 1960 Stangen und Platten aus Stahl, um offene und weit ausgreifende Skulpturen zu schaffen, die direkt auf dem Boden aufgestellt wurden und durch ihre Farbhaut wie schwerelos wirken („Yellow Swing“, 1965). Dagegen zwingt Phillip King den Betrachter, die Verbindungen zwischen den einzelnen räumlichen, Spannung erzeugenden Teilen selbst herzustellen.
Als ein „Hersteller“ - nicht Bildhauer - bezeichnet sich Richard Deacon, der im Verfahren des Anfertigens und Bauens von Gestaltformen aus Natur und Kultur in unterschiedlichen Materialien mit dem Unerwarteten rechnet. Während Tim Scotts Stahlskulpturen, die sich der expressiven Sprache des menschlichen Körpers annähern, fehlen, bilden Barry Flanagans Skulpturen, bestehend aus Sand, Jute oder Segeltuch, ihre eigenen Formen. Später hat Flanagan Bronzeskulpturen geschaffen, die den Hasen als ironisches Surrogat für den Menschen zum Thema hatten. Das mit Drähten anstelle einer weichen Matratze ausgestattete Kindergitterbett „Incommunicado“ (1993) von Mona Hatoum mutet wie ein Käfig an, aus dem man das Wimmern eines Kindes zu hören meint. Die 90er Jahre erlebten eine stetige Zunahme pluralistischer Werke in der Bildhauerei, zu denen auch Videokunst, Installationen, Performance und Land Art gehörten. Nicht alle Arbeiten vermögen zu überzeugen, manchen fehlt das Wesentliche: der Glaube an die Vitalität, die Spiritualität und die Phantasie des Menschen.
Bei den Künstlern um die Jahrhundertwende steht die Transformation im Mittelpunkt: Stühle, die sich in Mobiles verwandeln (Martin Boyce, „Suspended Fall“, 2005) oder Leder und Stahl, aus denen sich ein leichtes Gerüst mit fast organischem Charakter formt (Eva Rothschild, „Knock Knock“, 2005). Durch die Aneignung, Besitzergreifung von Objekten und Materialien kann die Skulptur sie verfremden, in Frage stellen, ihr Spiritualität und Magie verleihen, sie kann sie auch in ein Objekt des Staunens verwandeln. Die illusorischen Eigenschaften der Leere bzw. den scheinbar grenzenlosen inneren Raum erforscht Anish Kapoor. Die Kunst von Tracey Emin und Damian Hirst, die zu den Young British Artists gehören, setzt dagegen die Schocktaktik des Neo-Dada fort. Mitunter ist Magie im Spiel, so wenn Hew Locke, auf globale Machtstrukturen reagierend, aus bunten Perlen, künstlichem Laub und Blumen das Profil Elisabeths I. entstehen lässt, in deren Blick der psychedelische Wahnsinn lauert („Demeter“, 2010). Wir sollen beharrlich weiter notwendige Fragen stellen, um nichts als gegeben hinzunehmen.
In dieser Ausstellung erleben wir das Abenteuer Skulptur, die Künstler haben die Grenzen der Bildhauerei immer weiter ausgelotet, sie glauben wie Caro, dass „alles Skulptur sein kann.“ Sie bezeugen Risikofreude, Verspieltheit ebenso wie Spott und Humor. Sie erregen Zweifel, Abwehr und Neugier, bringen in uns aber auch etwas zum Klingen.
Objects of Wonder. British Sculpture from the Tate Collection 1950s – Present. PalaisPopulaire, Berlin-Mitte, Unter den Linden 5, tägl. außer Dienstag 10-19 Uhr, Donnerstag 10-21 Uhr, bis 27. Mai 2019. Katalog 26 Euro.