Die Volksrepublik Ungarn der 60er Jahre, ein junges Ehepaar zieht nach Budapest um. Die junge Schriftstellerin Magda, der das kommunistische Regime unter János Kádár nach langem Publikationsverbot erneut erlaubt, Bücher zu veröffentlichen, ist auf der Suche nach einer Zugehfrau. Bisher klingt alles eher unspektakulär. Als ich noch obendrein las, dass der Roman von einer „atypischen Frauenfreundschaft“ handelt, befürchtete ich etwas Sülzig-Gefühlsduseliges, ich dachte an eine ungarische Version von Virginia Woolf, die mir nie gefallen hat, oder noch schlimmer, eine „P.S. Ich liebe Dich“-Geschichte á la Cecilia Ahern, der Königin der sogenannten „chick lit“, also „Mädels-Literatur“. Jetzt denke ich nur: Wie schön ist es, wenn man sich so gewaltig irren kann!
Eine merkwürdige, aus dem Rahmen fallende Freundschaft entsteht also zwischen der gebildeten, ja, der „Oberschicht“ angehörenden Schriftstellerin Magda, und der aus Schäßburg/Sighi{oara stammenden, ungebildeten Emerenc, insoweit man von einer Oberschicht im real existierenden Sozialismus reden kann. Anders gesagt, sind die Hauptgestalten des Romans zwei komplett gegensätzliche Frauen, die eigentlich unterschiedlicher nicht sein könnten. Magda kommt aus dem Bildungsbürgertum, ist offen, leicht unsicher, schöpferisch und elitär. Emerenc ist kleinbäuerlicher Herkunft, verachtet geistige Arbeit, sie unterteilt alle in Menschen, die für sich kehren, und Menschen, die andere für sich kehren lassen. Für Emerenc erschafft nur derjenige wahren Nutzen, der mit seinen Händen arbeitet. Auch das Arbeitsverhältnis zwischen den beiden sollte eine Annäherung sehr unwahrscheinlich machen, denn Magda ist die Hausherrin, die Arbeitgeberin, während Emerenc nur den Haushalt erledigen soll. Jedoch gerät alles schnell ins Wanken, wie der Leser herausfindet: Emerenc verkündet, sie hat das Geld nicht nötig und wählt sich die Arbeitgeber selbst. Noch mehr: Es ist eigentlich Emerenc, also die Angestellte, die Magda auswählt, und nicht andersrum. Emerenc teilt ihr mit, bevor sie zusagen könnte, würde sie recherchieren, ob das junge Ehepaar es überhaupt wert ist, dass sie ihre Kleider wäscht, denn, so sagt sie, sie wüsche ja nicht jedermanns schmutzige Kleider – eine herrliche Umkrempelung einer standardisierten Bewerbungsgesprächssituation.
Überhaupt ist Emerenc auch keine gewöhnliche Frau, umso weniger eine gewöhnliche Haushälterin: Niemand arbeitet so viel wie sie, ihr Arbeitspensum ist enorm, und dabei ist sie schon 60. Niemand kocht so gut wie sie, niemand wäscht so gut wie sie. Sie beginnt ihren Dienst mit der trockenen Mitteilung, sie würde nur dann Magdas Haushalt machen, wenn es ihr passt. Sie kommt und geht, wann sie möchte und verrichtet ihre Arbeit nur, wenn sie es für erforderlich hält, denn Emerenc ist eigen. Da alles bestens funktioniert, entscheidet sich die junge Schriftstellerin Emerences Benehmen als exzentrisch zu betrachten und sich zu fügen. Langsam aber sicher gewinnt Emerenc immer mehr Einfluss im Haus des Ehepaars und insbesondere auf Magda. Es ist Emerenc, die dem gefundenen Rüden den ungewöhnlichen Namen „Viola“ gibt und es ist wieder Emerenc, die vom Hund als Autoritätsperson betrachtet wird.
Zunächst sind sich die beiden Frauen fremd, was hauptsächlich an Emerences wortkarger Art liegt, aber auch an der Tatsache, dass sie von so vielen Geheimnissen umgeben ist. Sie gibt nichts von sich preis un lässt niemanden in ihre Wohnung. Sie empfängt sogar ihre Verwandtschaft im zugehörigen Vorraum. Nicht nur Magda, sondern auch ihre engsten Freundinnen und langjährigen Nachbarn dürfen niemals erfahren, was sich hinter Emerences Tür verbirgt. Langsam kommen sich die Frauen näher, langsam erfährt Magda mehr über Emerences Vergangenheit, eines bleibt jedoch unverändert: Emerences Wohnung bleibt tabu. Emerenc verhält sich gebiezig und kompromisslos, schroff bis brutal – bleibt aber immer unbescholten. Trotz allem reift die Freundschaft zwischen den beiden Frauen immer mehr, bis es zur einer unvermuteten und tragischen Wendung kommt.
Der Autorin Magda Sza-bó, als Tochter einer calvinistischen Beamtenfamilie 1917 in Debrecen geboren, gelingt es auf wunderbare Art und Weise, eine zum Teil autobiografische Fiktion zu verfassen. Nicht nur die gleichnamige Heldin und deren Schriftstellerkarriere dienen als Indiz dafür, sondern auch das 1949 erteilte Publikationsverbot, das bis 1959 galt, und die Entlassung der Autorin aus dem Staatsdienst. Das Buch ist in der Ich-Form geschrieben und schlüssig verfasst. Nennenswert ist auch der gekonnte Romanaufbau und der angenehme, schlichte Erzählstil Szabós, ohne unnötigen Schnickschnack und billige Sentimentalität. Das Schreckliche, Tragische, wird nüchtern bis fast neutral erzählt, wenn Emerenc das Geschehen schildert, die Gefühle, das Empfindsame, das mentale Grübeln kennzeichnet eher die Erzählung Magdas – auch hier funktioniert das intradiegetische Duo komplementär und aufbauend.
Letzten Endes ist Szabós Buch ein Roman über eine delikate Gefühlswelt zwischen Freundinnen, die sowohl bizarr als auch herzzerreißend ist, eine Geschichte über Treue und Reue, über das eigene, unüberwindbare Scheitern und die daraus folgende Kränkung. Es ist eine Mahnung an uns alle, um für die Menschen, die uns nahe stehen, zur richtigen Zeit da zu sein, um ihnen somit zeigen zu können, wie wir sie lieben.
Magda Szabó, Hinter der Tür: Roman. Suhrkamp Verlag, 4. Auflage, 2012, Übersetzung aus dem Ungarischen von Hans-Henning Paetzke