Bevor noch der neueste Film von Radu Jude auf der diesjährigen Berlinale, die am 20. Februar begann und noch bis zum 1. März dauert, in der Sektion „Forum“ seine internationale Premiere erlebte, hatte das Bukares-ter Publikum bereits am 17. Februar die einmalige Gelegenheit, diesen Film im Rahmen einer Vorpremiere im Kino „Elvire Popesco“ zu sehen, und zwar im Beisein des Regisseurs, der Produzentin Ada Solomon, der Bühnenbildnerin Irina Moscu sowie zweier Hauptdarsteller (Șerban Lazarovici und Bogdan Zamfir), die allesamt im Anschluss an die Filmvorführung dem interessierten Publikum für Fragen zur Verfügung standen.
Der Film trägt den ungewöhnlichen Titel „Tipografic Majuscul“ (engl. Uppercase Print; dt. Typografisch Großschrift) und basiert auf dem gleichnamigen Theaterstück von Gianina Cărbunariu, das 2013 im Bukarester Odeon-Theater uraufgeführt wurde. Die gleich Radu Jude im Jahre 1977 geborene Dramatikerin verfasste gemeinsam mit dem Regisseur auch das Drehbuch zu diesem Film, in dem es um zwei mit-einander zusammenhängende Securitate-Dossiers aus den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts geht, welche die Namen „Panoul“ (Die Bauzauntafel) und „Elevul“ (Der Schüler) tragen.
Im Jahre 1981 hatte der sechzehnjährige Lyzealschüler Mugur C˛linescu, wohl unter dem Eindruck der polnischen Streikbewegung 1980, die zur Gründung der Gewerkschaft Solidarnosc führte, Bauzäune und Hauswände in seiner Heimatstadt Boto{ani mit Kreideparolen beschrieben, die das kommunistische Regime unter Ceaușescu kritisierten und Freiheit, Demokratie, Bürgerrechte sowie Wohlstand für alle propagierten. Mugur Călinescu starb bereits 1985 unter bis heute nicht geklärten Umständen. Um die Mutmaßungen zu prüfen, er sei damals vom rumänischen Geheimdienst vergiftet oder verstrahlt worden, wurde seine Leiche vor Kurzem exhumiert. Die diesbezüglichen Untersuchungen sind bis zum heutigen Tag nicht abgeschlossen.
Wie Radu Jude bereits in seinem 2018 erschienenen Film „Îmi este indiferent dacă în istorie vom intra ca barbari“ (Es ist mir gleichgültig, wenn wir als Barbaren in die Geschichte eingehen) auf der Leinwand die Nähe zum Theater suchte, so ist die Theaterbühne auch in seinem jüngsten Film ein wesentliches Element. Die Produktionsdesignerin Irina Moscu hat für Radu Judes Film verschiedene Bühnensegmente geschaffen, die diverse Institutionen und Aspekte des rumänischen kommunistischen Staates wie der rumänischen Gesellschaft der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts repräsentieren: Schule, Rundfunk, Fernsehen, Politik (symbolisiert durch das kommunistische Staatswappen), Geheimdienst, Friedhof. Im Zentrum dieser nach Art des Benthamschen Panopticons ringförmig angeordneten Bühnensegmente befindet sich die Kamera, die symbolisch die Totalität des Lebens im rumänischen Überwachungsstaat aufzeichnet: die Gespräche des Schülers mit seinen Eltern, seinen Klassenkameraden, seinen Lehrern; die Aussagen von Beschuldigten, Sachverständigen und Zeugen über die an Wänden und Bauzäunen aufgefundenen Parolen in Großbuchstaben; die aktuellen Maßnahmen sowie die späteren Selbstrechtfertigungsversuche der Securitate-Mitarbeiter.
Die Filmhandlung auf dieser theatralischen Bühne besteht fast ausschließlich in der Rezitation von Passagen aus den beiden genannten Securitate-Dossiers, sei es als Monolog, sei es als Zwiegespräch oder als Gruppengespräch im Stile einer Parteisitzung. Die Stimmen, die diese Gesprächsnotizen, Aussagen, Erklärungen und Überwachungsprotokolle jeweils wiedergeben, sind nahezu ausdruckslos und ohne jegliche Modulation, die Gesichter hingegen voller Expressivität. Bekannte Schauspieler wie Șerban Pavlu und Ioana Iacob, die Mugurs Eltern darstellen, stehen neben weniger bekannten Schauspielern wie etwa Șerban Lazarovici, der während der Dreharbeiten in dasselbe Lyzeum ging wie der von ihm verkörperte Schüler, oder wie Bogdan Zamfir, der einen Securitate-Offizier spielt, wobei letztere (Casting: Liliana Toma) den ersteren an Ausdrucksstärke kaum nachstehen, ja dem Film durch ihr Mitwirken sogar ein besonders hohes Maß an Authentizität und Überzeugungskraft verleihen.
Nicht nur die Akten des CNSAS, des Nationalen Rates zur Erforschung der Archive der Securitate, spielen eine gewichtige Rolle in Radu Judes Film, sondern noch ein weiteres Archiv, das Aufschluss über die rumänische Gesellschaft in der Zeit des Kommunismus zu geben in der Lage ist: das Archiv des Rumänischen Fernsehens (TVR), dessen sich Radu Jude bei der Montage seines jüngsten Opus ausgiebig bedient hat. So streut Radu Jude in den theatralischen Diskurs der Securitate-Dossiers zahlreiche Filmdokumente ein, die als Belege eines staatlich kontrollierten Lebens die geheimdienstliche Überwachung durch die Securitate ergänzen: Staats- und Parteichef Ceaușescu bei Arbeitsbesuchen in Fabriken oder bei der Aushändigung von Orden und Belobigungen, Erziehung zu Sauberkeit und Wohlanständigkeit, Verkehrserziehung (wäre es heutzutage denkbar, dass Autofahrer von der Polizei ermahnt oder gar bestraft werden, weil sie im Bukarester Straßenverkehr unnötigerweise die Hupe betätigt haben?), Kindererziehung, Schlager- und Volksmusik – all dies ist in Radu Judes Film in dokumentarischen Ausschnitten präsent. Marin Sorescu trägt hier sein subversives Gedicht „Socrate“ (Sokrates) vor, in dem er das Wachsen des Schierlings unter seinem Fenster beschwört, jenes bewährten Mittels zum Vollzug des staatlich verordneten Selbstmords. Und man wird der Misere der achtziger Jahre, die heutzutage von manchen bereits wieder idealisiert zu werden scheint, in Radu Judes Film in ihrem ganzen Ausmaß ansichtig.
Bereits für ein einziges Dokument aus den Archiven des Rumänischen Fernsehens lohnt sich der Besuch dieses neuesten Filmes von Radu Jude, mit dem dieser jenen auch beginnen lässt. Man sieht da zwei Schauspieler und eine Schauspielerin, die gemeinsam vor der Fernsehkamera einen Huldigungstext für den „Conducător“ (Führer), den Großen Kommandanten, den Titan der Titanen, den Sohn der Sonne zu rezitieren haben. Nach der ersten Aufnahme soll ein zweiter Take folgen, aber der Teleprompter ist ausgefallen. Es herrscht Ratlosigkeit. Während die Kamera immerzu weiter läuft, verharren die drei Akteure schweigend in einer Art Schockstarre. Sie sind plötzlich Gefangene einer politisch brisanten Situation, Opfer einer beruflichen Zwangslage, wehrlose Zeugen ihrer eigenen Lähmung, Anspannung und Angst, welche es sie kaum wagen lassen, die Verantwortlichen darauf aufmerksam zu machen, dass ihnen der Text fehlt, der eigentlich gar nicht der ihre ist.
Manchem Zuschauer mag die einhundertachtundzwanzigminütige Dauer des Films zu lange vorkommen, aber die Überzeugungskraft von „Tipograf Majuscul“ wächst eben auch mit der schieren Quantität des darin verarbeiteten und aufbereiteten Materials, das unter Radu Judes Regie und in der Montage von Cătălin Cristuțiu durchgängig und konsequent Authentizität als Kosmetik, Realismus als Kontrafaktur, Wirklichkeitsbeschwörung als Propagandalüge entlarvt. Gut deshalb, dass Radu Jude die in seinem Film gezeigten Bilder der Epoche nicht als fossile Einschlüsse im Bernstein abgestorbener Geschichte konserviert, sondern dass er das Filmgeschehen in die aktuelle Gegenwart herein reichen und damit das Vergangene in heutiger Zeitgenossenschaft lebendig werden lässt. Er knüpft damit letztlich auch wieder an die in typografischen Großbuchstaben verfassten Texte des im Alter von 19 Jahren verstorbenen Mugur Călinescu an, die über seinen frühen Tod hinaus gleichfalls in die Gegenwart herein sprechen, wie etwa dessen traurige Erkenntnis: „Unter Feiglingen kannst du gar nichts anfangen!“