Paul Celans Gedicht „Todesfuge“, das mit dem Vers „Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends“ beginnt, zählt zu den berühmtesten Gedichten der Weltliteratur. Es wurde auf Deutsch geschrieben, erschien im Jahre 1947 zunächst in rumänischer Übertragung von Petre Solomon unter dem Titel „Tangoul morții“ (Todestango), bevor es erstmals 1948 in deutscher Sprache in Paul Celans erstem Gedichtband „Der Sand aus den Urnen“, allerdings noch mit Druckfehlern behaftet, veröffentlicht wurde. Erst seit der zweiten Auflage von Paul Celans zweitem Gedichtband „Mohn und Gedächtnis“ (1952) ist das Gedicht korrekt publiziert.
Der Literaturwissenschaftler und ausgewiesene Celan-Kenner Thomas Sparr, ehemals Leiter des Jüdischen Verlags und Cheflektor des Siedler Verlags wie auch Geschäftsführer des Suhrkamp und des Insel Verlags, hat die 100. Wiederkehr des Geburtstages von Paul Celan sowie die 50. Wiederkehr seines Todestags in diesem Jahr zum Anlass genommen, jenes berühmte Gedicht „Todesfuge“ im Kontext der Biographie des 1920 im damals rumänischen Czernowitz geborenen und 1970 in Paris durch Freitod aus dem Leben geschiedenen jüdischen Dichters deutscher Sprache Paul Celan näher zu untersuchen.
Das heute in der Ukraine liegende Czernowitz war die Geburtsstadt zahlreicher bedeutender deutschsprachiger Dichter und Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, darunter etwa Rose Ausländer, Moses Rosenkranz, Alfred Kittner, Gregor von Rezzori, Selma Meerbaum-Eisinger, Immanuel Weissglas und last but not least Paul Celan, der ursprünglich Paul Antschel hieß, in rumänisierter Form Ancel, woraus dann qua Anagramm der Nachname Celan entstand.
In seiner Ansprache anlässlich der Entgegennahme des Literaturpreises der Freien Hansestadt Bremen im Jahre 1958 hat Paul Celan seine Heimatregion, die Bukowina oder das Buchenland, als eine Gegend bezeichnet, „in der Menschen und Bücher lebten“. Und in seiner Rede anlässlich der Verleihung des Georg-Büchner-Preises im Jahre 1960 hob Celan an der zeitgenössischen Lyrik hervor, dass hier „am deutlichsten versucht wird, solcher Daten eingedenk zu bleiben“, wie sie die eigene Herkunft, die geschichtlichen Umstände und die eigene Biographie darstellen. Wenn das Leben des Dichters qua Datum und Zitat im Gedicht geborgen und verborgen ist, so vermag die „Biographie eines Gedichts“ just dieses darin aufbewahrte und aufgehobene Leben zur Sprache und zum Sprechen zu bringen.
Genau an diese Erkenntnis knüpft das neu erschienene Buch von Thomas Sparr an. Es sucht zum einen Elemente der Biographie Paul Celans in der „Todesfuge“ auf. Paul Celan litt zeitlebens nicht nur darunter, dass er seinen Eltern in der Deportation nicht beistehen konnte, sondern auch daran, dass seiner 1942 im transnistrischen Lager durch Genickschuss getöteten Mutter ein Grab verwehrt blieb. Das in der „Todesfuge“ beschworene „Grab in den Lüften“ resp. „in den Wolken“ zeugt in poetischer Sprache von diesem seelischen Trauma.
Darüber hinaus zeigt Thomas Sparrs Buch, wie das Gedicht „Todesfuge“ an Knotenpunkten von Paul Celans Leben immer wieder in Erscheinung tritt und sein persönliches wie dichterisches Schicksal bestimmt. So wird die „Todesfuge“ gleichsam zum Inbegriff der Biographie Paul Celans, welche Sparrs Buch in stilistischer Ausgewogenheit und in einem Gleichgewicht von behutsamer Anteilnahme und berichtender Distanz entfaltet.
Entsprechend der „Toposforschung“, die Celan in seiner Büchner-Preis-Rede mit dem Titel „Der Meridian“ unternahm, folgt Thomas Sparr in den einzelnen Kapiteln seines Buches nicht nur den Wohnorten des Lebens von Celan (Czernowitz, Bukarest, Wien, Paris), sondern auch den Orten, zu denen ihn seine zahlreichen Reisen führten. Das Kapitel „Niendorf 1952“ schildert etwa Paul Celans Lesung bei der ‘Gruppe 47’, deren Mitglieder, was heute kaum mehr nachvollziehbar ist, jegliches Verständnis für die „Todesfuge“ vermissen ließen. Schlimmer noch: Die jungen Schriftstellerkollegen lachten über Celans pathetische Vortragsweise und verglichen sie mit dem „Tonfall von Goebbels“ und dem „Singsang wie in einer Synagoge“. Die Shoah wurde in dieser vielsagenden Begebenheit nicht etwa „ausgeblendet“, wie der Literaturwissenschaftler Klaus Briegleb 2003 schrieb, sondern im vollen Bewusstsein der jüngsten Geschichte höhnisch gegen eines ihrer Opfer gewendet.
„Die ‘Todesfuge’ erreichte früh den Kontinent, den ihr Autor nie betrat: Amerika.“ Mit diesem Satz eröffnet Thomas Sparr das Kapitel „New York 1955“, das sich mit den ersten Übersetzungen der „Todesfuge“, des nach Hermann Hesses „Stufen“ meistübersetzten Gedichtes deutscher Sprache, ins amerikanische Englisch befasst. „Black milk of morning we drink you at dusktime“ – so lautet der erste Vers der „Todesfuge“ in der Übertragung durch Jerome Rothenberg, der, in New York geboren, als US-Besatzungssoldat in Mainz Deutsch gelernt hatte. Und im folgenden Kapitel berichtet Thomas Sparr, wie die „Todesfuge“ schon früh Musiker zu Kompositionen anregte, nicht zuletzt Peter Ruzicka, der die „Todesfuge“ 1969/70 für Singstimme und sechzehnstimmigen Chor vertonte. Auf dem Enescu-Festival 2009 stellte der Komponist außerdem seine „Celan“-Oper dem Bukarester Publikum vor.
Bei dieser Lektüre dieses Buches von Thomas Sparr erfährt man nicht nur unendlich vieles über das Leben von Paul Celan: von ihm selbst, seinen zahlreichen Bekannten, seinen Kollegen, seinen Freunden und Feinden (darunter etwa Yvan Golls Witwe Claire, die Celan des dichterischen Plagiats bezichtigte), wie auch von seinen Geliebten, etwa Ingeborg Bachmann, Brigitta Eisenreich oder Inge Waern, oder von seiner Ehefrau, der Künstlerin Gisèle Lestrange. Sondern man tritt bei der Lektüre zugleich in den Kosmos der zeitgenössischen Literatur wie der europäischen Gegenwartskultur ein, erfährt manches vom Verlags- und Buchwesen der fünfziger und sechziger Jahre, aber auch einiges von der Vergangenheitsbewältigung der Deutschen in der Epoche der Nachkriegszeit. Sparr schildert nicht nur Begegnungen Celans, die tatsächlich stattgefunden haben, sondern deutet auch mögliche Begegnungen des Dichters an, etwa – anlässlich eines Besuches in Hamburg – mit Ida Ehre, der Prinzipalin der Hamburger Kammerspiele, oder mit Erich Lüth, dem Leiter der Staatlichen Pressestelle Hamburg, der sich kämpferisch gegen das Fortbestehen des deutschen Antisemitismus in der Nachkriegszeit wandte.
Weitere Lebensmeridiane des Dichters wie auch die Rezeptionswege seines berühmtesten Gedichts berühren in den sechziger Jahren die Orte Darmstadt, Budapest, Lübeck, Moskau, Westberlin und Jerusalem. Die letzte Lesung in Stuttgart, die letzte Station Freiburg vor der letzten Heimreise, der letzte Atemzug des Dichters im Frühjahr 1970 in Paris beschließen dessen Lebensbeschreibung, aber nicht die Biographie des Gedichts „Todesfuge“. Die Kapitel „Ostberlin 1986“ und „Bonn 1988“ erinnern an das Fortleben der Dichtung Celans – man denke nur an die Rezitation der „Todesfuge“ durch Ida Ehre im Deutschen Bundestag zum Gedenken an die 50 Jahre zurückliegenden NS-Pogrome unmittelbar vor jener denkwürdigen Rede des damaligen Bundestagspräsidenten Philipp Jenninger, die diesen am Tag darauf das Amt kostete. Das letzte Kapitel „Das Jahrhundert Paul Celans“ beschließt das kenntnisreiche, lesenswerte und einfühlsam geschriebene Buch von Thomas Sparr, das durch eine Danksagung, eine Zeittafel zum Leben Paul Celans, durch zahlreiche Anmerkungen, eine umfangreiche Bibliographie, durch ein Register (Personen, Orte, Gedichte) sowie einen Bild- und Rechtenachweis auf gelungene Weise abgerundet wird.
Wenn, wie wir vermuten und wie Celan selbst einmal schriftlich festhielt, die „Todesfuge“ im Jahre 1945 entstanden ist, sei es noch in Czernowitz oder schon in Bukarest, dann begehen wir in diesem Jahr nicht nur Paul Celans 100. Geburtstag, gedenken wir heuer nicht nur seines 50. Todestages, sondern wir feiern im Jahr 2020 auch das 75. Jubiläum der „Todesfuge“, dieses einzigartigen Gedichts, das für Celan die ‘Hälfte des Lebens’ bedeutete und das die Welt gestern wie heute an die tiefste Zäsur ihrer jüngsten Geschichte erinnert.