Alfred Hitchcocks „Vertigo“ aus dem Jahre 1958 zählt zweifelsohne zu den besten Filmen aller Zeiten. Aus diesem Klassiker der Kinogeschichte hat Christian Petzold in seinen Spielfilm „Phoenix“, der am 25. September 2014 seinen deutschen Kinostart und am 5. Juni dieses Jahres seine rumänische Premiere erlebte, ein zentrales Motiv übernommen: die sukzessive Verwandlung von Gesicht, Frisur, Kleidung und Verhalten einer Fremden bis zur völligen Identität mit Gestalt und Aussehen einer vormals geliebten Frau. Die Ironie dabei ist, dass die beiden Männer, die in Hitchcocks und Petzolds Film jene Verwandlung vorantreiben, bis zum finalen Showdown nicht wissen, dass es sich bei der Fremden tatsächlich um die einstige Geliebte handelt.
Ein gewichtiger Unterschied zwischen dem amerikanischen und dem deutschen Film ist freilich, dass das Verschwinden der geliebten Frau im ersteren ohne Zutun des Mannes geschieht, im letzteren aber von diesem im tiefsten Sinne des Wortes verschuldet ist, denn der deutsche Pianist Johnny, der Ehemann der jüdischen Sängerin Nelly, hat seine in einem Berliner Versteck lebende Frau, nachdem er sich ohne deren Wissen von ihr hat scheiden lassen, im letzten Kriegsjahr den die Endlösung betreibenden Nazis ausgeliefert und durch seinen Verrat die Deportation seiner Ehefrau nach Auschwitz verursacht. Diese traurige Wahrheit tritt jedoch am Beginn des Films noch nicht zutage, sondern wird im Stile eines sophokleischen Enthüllungsdramas erst nach und nach ans Licht gebracht. Mit der Anagnorisis, der Wiedererkennung in der finalen Szene, endet denn auch Petzolds inzwischen bereits mehrfach preisgekrönter Spielfilm.
Der Anfang des Films führt den Betrachter in das von Trümmern übersäte Berlin der unmittelbaren Nachkriegszeit. Lene Winter, die bei der Jewish Agency for Israel tätig ist und ihre Auswanderung nach Palästina plant, bringt ihre schwer verwundete Freundin Nelly mit dem Auto in den amerikanischen Sektor ihrer Heimatstadt zurück. Nelly hat ihre Gefangenschaft im Konzentrationslager Auschwitz mit gravierenden Kopfverletzungen überlebt und möchte sich von einem Gesichtschirurgen ihr früheres Aussehen wiederherstellen lassen. Sie ist seelisch stark traumatisiert und außerdem hauptsächlich deswegen nach Berlin zurückgekehrt, um ihren geliebten Ehemann Johnny wiederzufinden.
Nachdem die Wunden ihrer Gesichtsoperation verheilt sind, trifft sie ihren Mann schließlich in einer hauptsächlich von GIs frequentierten Jazzbar mit Namen „Phoenix“, aber Johnny erkennt sie nicht wieder. Von Lene erfährt sie, dass Johnny sich derzeit bemüht, an das Erbe der tot geglaubten Gattin zu kommen, was ihm ohne deren Sterbeurkunde freilich nicht gelingen kann. Die Ähnlichkeit der rätselhaften Fremden mit Nelly bringt Johnny schließlich auf die Idee, der schönen Unbekannten einen Deal vorzuschlagen: Sie soll in die Identität der verschollenen Nelly schlüpfen, mit einem aus Polen kommenden Zug in Berlin einrollen, sich von Nellys Freunden begrüßen und wiedererkennen lassen, um dann ihre Besitzrechte geltend zu machen und die Rückgabe ihres von den Nazis beschlagnahmten Vermögens zu verlangen, von dem sie dann auch einen gewissen Anteil erwarten darf.
Mit großer Schauspielkunst verkörpert Nina Hoss die liebende Nelly, die im Verlauf dieses Verwandlungsprozesses zu sich selbst beständig hofft, Johnny möge sie doch endlich erkennen und sie in seine Arme schließen: Insbesondere nachdem sie Nellys Handschrift perfekt ‚imitiert’, nachdem sie sich bewegt wie sie, sich kleidet wie sie und schließlich auch noch wie Nelly ihre Haare färbt und im Stile Hedy Lamarrs frisiert, deren Äußeres Nelly früher immer nachzuahmen versucht hatte. Doch Johnny erkennt sie immer noch nicht, selbst dann nicht, als sich Nelly an ihren Lieblingsorten, zu denen Johnny sie bringt, um sie mit Nellys Gewohnheiten vertraut zu machen, mit traumwandlerischer Sicherheit genauso verhält, wie Nelly dies früher getan hatte.
Die erste echte Bewährungsprobe für Nelly ist dann der Besuch desjenigen Hotels am Ufer des Berliner Müggelsees, in dessen Bootshaus sich Nelly bis zu ihrer Deportation versteckt hielt. Sie wird von den Besitzern sofort erkannt und mit einer Mischung aus Angst und Wiedersehensfreude begrüßt. Dort erfährt sie auch, dass Johnny noch am Tag ihrer Deportation im Hotel aufgetaucht ist, obwohl er sich zu diesem Zeitpunkt eigentlich in Haft hätte befinden müssen. Für Johnny indes, der die erfolgreiche Wiedererkennungsszene aus der Ferne beobachtet hat, ist jetzt die Zeit gekommen, ‚seine’ Nelly offiziell wieder nach Berlin zurückkehren zu lassen.
Ein retardierendes Moment ergibt sich dadurch, dass Lene Winter zwischenzeitlich Selbstmord begangen hat, weil sie weder in Hass noch in Verzeihung, weder im Dableiben noch im Auswandern für sich irgendwelchen Sinn mehr sehen und letztlich ihr Holocausttrauma nicht überwinden konnte. Lene, die von Nina Kunzendorf mit gespannter Verhaltenheit und innerer Bewegtheit grandios interpretiert wird, hat Nelly als ‚Abschiedsgeschenk’ die Scheidungsurkunde Johnnys hinterlassen, sie im Prinzip also mit derselben Ausweglosigkeit konfrontiert, der sie selbst durch ihren Freitod ein für allemal ein Ende gesetzt hat.
Doch Nelly geht ihren eigenen Weg bis zum bitteren Finale konsequent weiter. Vor der offiziellen Rückkehr nach Berlin will Johnny dem vermeintlichen Nelly-Double noch die eintätowierte KZ-Nummer ausbrennen, um ihre spätere Identifizierung unmöglich zu machen, aber Nelly weist ihn barsch zurück. Paradoxerweise wird also nicht die Liebe Johnnys, sondern die ihr in die Haut gestochene Häftlingsnummer zum bleibenden Garanten von Nellys Identität.
Dann naht der große Moment der Heimkehr, der wie vorausgeplant und einstudiert abläuft. Nelly wird von ihren Freunden und ihrem Mann am Bahnhof empfangen, wiedererkannt, begrüßt, geherzt und anschließend in ein Ausflugslokal geführt, wo sie gemeinsam ihr Wiedersehen feiern. Nelly, die bis dahin noch nicht wieder gesungen hat, bittet Johnny unerwartet, sie am Klavier zu einem Musicalsong zu begleiten, der im Film mehrfach eine wichtige Rolle spielt: zu dem Lovesong „Speak low“ von Kurt Weill nach einem Text von Ogden Nash. Ihre Gesangsstimme schafft schließlich, was dem Aussehen, dem Betragen, der Handschrift, dem Äußeren Nellys nicht gelungen ist: Sie öffnet Johnny endlich die Augen, der irgendwann einmal, vom Erkennen überwältigt, aufhört, sie am Klavier zu begleiten und nur noch stumm und in sich zusammengesunken dasitzt, während Nelly alleine weiter singt: „Time is so old and love so brief, / Love is pure gold and time a thief. / We’re late, darling, we’re late. / The curtain descends, ev’rything ends / Too soon, too soon. / I wait, darling, I wait. / Will you speak low to me, / Speak love to me and soon?“.
Nicht nur die kammerspielartige Dichte des Films und seine ausgefeilte Ästhetik, nicht nur die exzellenten Protagonistinnen und der hervorragende Ronald Zehrfeld als Johnny, nicht nur die exquisite Maske und das gelungene Drehbuch (Christian Petzold und Harun Farocki), nicht nur der innere Rhythmus, sondern vor allem auch die Musik (Stefan Will) mit Songs von Kurt Weill und Cole Porter machen den Film zu einem sehens- und hörenswerten Gesamterlebnis, der im zeitgenössischen Kontext des nationalsozialistischen Holocaust und seiner Bewältigung große Themen anschneidet: Liebe und Vergebung, Verrat und Buße, Verzweiflung und Hoffnung, und die Frage, ob sich verletzte und geschundene Menschlichkeit jemals, wie Phönix aus der Asche, rein und neu wieder zu erheben vermag.